Im Schatten der Freundlichkeit

Was als Smalltalk begann, endet in einem Thriller: Alejandro Leiva Wenger gewinnt mit "Leichenschmaus" den Internationalen Autor:innenwettbewerb. Ein Stück mit großem Nachspielpotenzial. Auch die beiden anderen Stücke aus Schweden beweisen Qualitäten.

Von Georg Kasch

8. Mai 2023. Dramatik aus Schweden? Da fällt einem aus deutscher Perspektive nicht so viel ein. August Strindberg, der große Umwälzer um 1900, wird heute selten gespielt. Lars Norén, der den Spuren der Randständigen und Ausgestoßenen folgte, ergeht es ähnlich. Vermutlich ist Schwedens in Deutschland meistaufgeführte Autorin Astrid Lindgren – mit Bühnenversionen von "Pippi Langstrumpf", "Ronja Räubertochter" und Co. Und Schwedens meistaufgeführter Autor Filmregisseur Ingmar Bergman.

Beim Internationalen Autor:innenwettbewerb des Heidelberger Stückemarkts, der jedes Jahr drei Dramatiker:innen des Gastlandes vorstellt, bekommt man zumindest eine Ahnung davon, dass da mehr zu holen ist für den deutschsprachigen Theatermarkt. Zum Beispiel bei Alejandro Leiva Wengers "Leichenschmaus". Ein echtes Drama mit nummerierten Akten und Szenen, mit Szenenanweisungen und plastischen Figuren, die aber genug Raum für eigene Akzente lassen. Denn die Handlung lässt vieles im Vagen. Sackarias ist tot, und seine Mutter sucht seine Freunde zusammen für eine kleine Trauerfeier (die Übersetzung des Titels mit "Leichenschmaus" führt da etwas in die Irre). Auch Jon ist eingeladen. Blöd nur, dass er sich überhaupt nicht an Sackarias erinnern kann. Die kleine Feier – Mutter Minna, Vater Hugo, Schwester Lethe, Jon und seine Freundin Rosmarie, dazu ein Freund namens Kujje – droht ständig aus dem Ruder zu laufen, weil hier unterdrückte Gefühle und Wahrheiten auf die Frage treffen, ob Erinnerungen manipulierbar sind (die Wissenschaft sagt ja) und wie weit wir uns auf sie verlassen können.

Wie Annie aus Stephen Kings "Misery"

"Leichenschmaus" beginnt als typisches Konversationsstück, das den oberflächlichen, tastenden Smalltalk zelebriert, der die Unmöglichkeit abzufedern versucht, sich in die Perspektive der Anderen hineinzuversetzen. Und endet im Thriller, wenn sich Minna als große Manipulatorin erweist, die Jon die Freundschaft zu Sackarias andichtet und ihn selbst zunehmend in dessen Rolle drängt – man denkt an Figuren wie der verrückte Fan Annie in Stephen Kings "Misery".

Spannend dabei ist, wie vielfältig Leiva Wenger die Motive durchspielt, vor allem das Januspaar Fantasie und Lüge. Minna fälscht die Erinnerungen wie einst ihre Fotografien. Hugo forscht zu Regenwürmern, die durch ihre umwälzende Erdarbeit historische Erinnerung erst ermöglichen und zugleich erschweren. Jon ist derart neben der Spur, dass er sich schon an die einfachsten Dinge nicht erinnern kann (hat er sich nun für Soziologie oder Sozialpädagogik eingeschrieben?), findet aber in seiner Erinnerung (um Minna nicht zu enttäuschen) Erstaunliches über Sackarias. Auch Lethe (die Namen sind hier, nicht nur im Schwedischen, allesamt sprechend) erinnert sich an Dinge, die nie existiert haben. Kujje, der Einzige, der wirklich etwas über Sackarias zu sagen wüsste (und auch bei dessen Tod dabei war – war’s ein Unfall? Mord? Suizid?), stolpert ständig über die eigenen Worte und wird von Minna ausgebremst. Vermutlich, weil sie die Wahrheit über ihren Sohn nicht ertragen würde. Denn der, so deutet es Leiva Wenger an, war ein einsamer, verschrobener Verschwörungstheoretiker. Aber wer weiß das schon genau?

Suche nach Sinn und Bedeutung

Was bleibt: Wie sehr Menschen nach Sinn und Bedeutung suchen, und sei es in einem öligen Song wie Journeys "Don’t Stop Believin‘". Und großartiges Spielfutter: Bei der Lesung demonstrierte etwa Patricia Schäfer als Minna, wie viele Facetten in der Rolle stecken. Es gibt also viele gute Gründe, warum die Jury aus der Regisseurin Sapir Heller, der Dramaturgin Elvin İlhan, der Kritikerin Christiane Lutz, der Autorin Ulrike Syha und dem Leitenden Heidelberger Schauspieldramaturgen Jürgen Popig dieses Stück mit dem 5.000 Euro dotierten Internationalen Autor:innenpreis ehrt.

In "Leichenschmaus" (wie übrigens auch in "Ambulanz" von Paula Stenström Öhman, das als Gastspiel in Heidelberg gezeigt wurde) begegnet uns nämlich ein Menschentyp, wie wir ihn aus vielen der enorm populären schwedischen Serien kennen, "Borgen", "Liebe und Anarchie", "Young Royals", deren Autor:innen übrigens oft zugleich Dramatiker:innen sind. In ihrer freundlichen, alles abfedernden Art verkörpert Minna jene Charaktere, die Konflikte freundlich unter den Teppich moderieren oder trotz Hundeblicks und "Alles wird gut"-Gesten für echte Probleme keine Lösung haben – was diejenigen, die aus der Harmonie ausscheren, noch wütender macht.

Es ist die Schattenseite jener klischeehaften schwedischen IKEA-Freundlichkeit, die sich gerade auch in der Politik Bahn bricht, wo jetzt die rechtsextremen Schwedendemokraten den Ton angeben. Auf diese unterdrückte Passivaggressivität dürfte auch Hugos Satz anspielen (das Stück freilich entstand schon 2016): "Anderen Leuten mit Unterkunft und Kleidung zu helfen, ist doch kein Verbrechen? Jedenfalls nicht in Schweden." Daraufhin kommentiert die Regieanweisung: "(Pause. Alle sehen sich an, als wäre die Antwort klar.)"

Adel Darwish Foto Albert Haggblom querAdel Darwish. Foto © Albert Haggblom

Ebenfalls zum Nachspielen empfiehlt sich Adel Darwishs "Hirachy of Needs". Auch hier geht es um die Unmöglichkeit, über die verschiedenen Wahrnehmungen zu erzählen oder dasselbe Phänomen gleich wahrzunehmen, allerdings unter vollkommen anderen Vorzeichen. Das Stück kombiniert die Bühnen-Absurdität von Luigi Pirandellos "Sechs Personen suchen einen Autor" mit der realen Absurdität, in der Menschen leben, die migriert sind und mit der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen klarkommen müssen. In diesem Fall: dem alles zerfressenden Krieg und der Diktatur in Syrien und dem selbstvergessenen Wohlstandsfrieden in Schweden. Darauf spielt auch die titelgebende Bedürfnispyramide an – im globalen Westen ist die oberste Stufe meist eine Selbstverständlichkeit, im globalen Süden oft unerreichbar.

Dabei ist die Handlung gar nicht so leicht zu erzählen, denn Darwishs Stück (der sich als Autor und Regisseur gleich selbst in die Handlung geschrieben hat) wirkt wie ein Möbiusband: Zeit und Raum sind in sich verdreht beziehungsweise aufgehoben. Adel probt mit einer schwedischen Schauspielerin in einem nahezu leeren Theaterraum, zwei Zuschauer mischen sich ein mit der Frage, ob die Pflanze auf der Bühne lebt oder tot ist. Aus Syrien stoßen mehrere Schauspieler:innen per Videokonferenz hinzu, ob live, ob aufgenommen, bleibt ebenso unklar wie die Frage, warum sie plötzlich Schwedisch sprechen (ist ja Teil des Stücks für ein schwedisches Publikum). Oder warum alle Text sprechen, den wir schon gehört haben. Oder warum Adels erstes Treffen mit der Schauspielerin plötzlich noch vor ihm liegt.

Die tödliche Last der Gleichzeitigkeit

Spannend, wie hier die Realität auf die Fiktion, aber auch die Fiktion auf die Realität zurückwirkt. Und wie absurdes Theater die Absurdität widerspiegelt, in Zeiten zu leben, in denen man in einem Land Theater machen kann, während in einem anderen Land die eigenen Freunde ermordet werden – und das Publikum oder die Kolleg:innen vor Ort nichts von der Absurdität und tödlichen Last dieser Gleichzeitigkeit begreifen.

"Hirachy of Needs" ist von einer ehrlichen Verzweiflung grundiert darüber, dass das Wort Freiheit in einem Land zur sofortigen Ermordung führen kann, während es im anderen kaum Bedeutung zu haben scheint. Kann ein Gespräch über Pflanzen ein Verbrechen sein, um ein Brecht-Wort abzuwandeln? Ob sich allerdings die absurde Komik problemlos ins Deutsche übertragen lässt, wurde bei der (gekürzten) Lesung nicht ganz klar. Immerhin deuten Katharina Quasts schwedische und Zainab Alsawahs syrische Schauspielerin durchaus an, dass es Raum gibt für trockene, bissige Pointen.

Asa Lindholm Foto privat querAsa Lindholm. Foto © privat

Ganz anders bei Åsa Lindholms "Girls will make you blush" über junge Frauen in der Pubertät und in der Gesellschaft. Es hat alles, was das deutschsprachige Theater liebt: Rhythmus, der in der Lesung punktgenau über die Rampe kam (wie auch "Leichenschmaus" hat es Jana Hallberg übersetzt, eine Sprachkünstlerin, die weiß, dass ein Text nicht nur korrekt übertragen werden, sondern klingen muss). Ein griffiges Thema, unverschämt Richtung Publikum gepfeffert. Und sehr viel Raum für szenische Einfälle. Denn außer ein paar Mono- und Dialogen über weibliche Geschlechtsteile, Menstruation, Körpernormen gibt es wenig: keine Rollen, keine Settings oder Regieanweisungen (geschaffen wurde es als Sprech-Tanz-Performance). Man kann sich dieses Stück schön als drängendes In-your-face-Theater vorstellen, empowernd, witzig, wichtig. Überhaupt schön, dass das in Schweden so wichtige und wichtig genommene Kinder- und Jugendtheater im Wettbewerb mit einem Erfolgsstück vertreten ist (die Uraufführungsproduktion von 2014 lief fünf Spielzeiten lang).

Allerdings gibt es Einschränkungen. Seit der Uraufführung hat sich der Diskurs etwas weiterentwickelt – und das deutschsprachige Jugendtheater längst mit eigenen Stücken, Adaptionen und Inszenierungen reagiert: Suna Gürlers "Stören" etwa, "Cybersexhibition" von FEELINGS und Jakob* & Schleiff oder auch "What the Body?!" aus dem diesjährigen Jugendstückewettbewerb. Aus Schweden hat sich Liv Strömquists Graphic Novel "Der Ursprung der Welt" auf den Bühnen durchgesetzt. Zudem: Queere Themen wie trans / inter / genderfluid werden bei Lindholm zwar angedeutet – heute rücken sie in Stücken über Gender aber oft viel stärker in den Fokus, weil sich an ihnen einerseits das Pubertätsgefühl des Außenseiters durchspielen lässt, andererseits gesellschaftlich der Gegenwind besonders stark und die Wissenslücken enorm sind.

Heißt: Klar kann man "Girls will make you blush" auch in deutschsprachigen Jugendtheatern inszenieren. Gut möglich aber, dass dort die Position des schamgrenzenbefreiten Sprechens über Tabuzonen schon besetzt ist. Da haben Leiva Wengers Konversations-Psycho-Suspense und Darwishs absurde Tragikomödie überm Abgrund wesentlich bessere Karten im Nachspielpoker.

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Leichenschmaus / Minnesstund
von Alejandro Leiva Wenger
Deutsch von Jana Hallberg
Einrichtung: Klaudia Rzezniczak, Dramaturgische Betreuung: Jürgen Popig
Mit: Marie Dziomber, Hannah Hupfauer, Timo Jander, André Kuntze, Hendrik Richter, Patricia Schäfer
 

Girls will make you blush
von Åsa Lindholm
Deutsch von Jana Hallberg
Einrichtung: Caroline Ufer, Dramaturgische Betreuung: Theresa Leopold
Mit: Nicole Averkamp, Sheila Eckhardt, Katharina Quast, Esra Schreier

Hierarchy of Needs
von Adel Darwish
Deutsch von Barbro Hultgren
Einrichtung: Ida Feldmann, Florian Huber
Mit: Marco Albrecht, Zainab Alsawah, Youssef Maghrebi, Simon Mazouri, Katharina Quast, Friedrich Witte

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