Autor:innenpreis
Miriam Unterthiner – Va†erzunge
Auf Basis einer wahren, historischen Begebenheit wird vom Leben einer jungen Frau und deren Emanzipation berichtet. Kunstvoll verwebt die Autorin drei Sprech- bzw. Sprachebenen und macht auf diese Weise die Enge der dörflichen Gesellschaft ebenso wie die Deformation der Frau und ihr Aufbegehren spürbar.
Miriam Unterthiner, geboren 1994 in Italien, lebt in Wien. Ehemalige Handballerin, jetzt Dramatikerin und Autorin. Studium der Philosophie (BA), Germanistik (BA, MA) sowie der Sprachkunst (MA) an der Universität für angewandte Kunst. 2022 erhielt sie das Dramatiker:innenstipendium der österreichischen Bundesregierung, war Teil des Autor:innenprogramms Drama Lab der Wiener Wortstaetten sowie von FORUM Text 1 der uniT. Ihr Theatertext "Der Mann, der im Brunnen saß und da lag und da war und da war" wurde für den Retzhofer Dramapreis 2021 nominiert. Das Stück "Va†erzunge" entstand im Rahmen des Drama Lab 2022 der Wiener Wortstaetten.
Autor:innen und Stücke
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Das Stückporträt: Va†erzunge – Miriam Unterthiner
von Elena Philipp
März 2023. "Maria bringt sich selbst zur Sprache": Dieser Satz ist Programm in Miriam Unterthiners oratorischem "Stück Sprechen" mit dem Titel "Va✝︎erzunge". In fünf Sprech-Akten und sechs rahmenden Intermezzi wird Maria geboren, vernachlässigt, verformt; und kämpft sich aus der psychosozialen Unterdrückung heraus, ins eigenständige (Sprach-)Leben.
Mit der Geburt beginnt "Va✝︎erzunge". Blutig, viszeral. Und dann ist Maria auf der Welt. Stumm und anfangs namenlos bleibt "das Kindelein", das unbestimmte "was", das heraustritt aus der Mutter. Obwohl es schreien will, verharrt es tonlos und unbewegt. Reißt nur die Augen auf, der Brustkorb hebt und senkt sich: "Und ist allein. Und lebt." In kargen, gemeißelten Sätzen beschreibt die Südtiroler Autorin Miriam Unterthiner Marias Zur-Welt-Kommen. Maria. Ein generischer Name in der unbestimmten Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts, in der Unterthiners Nachbemerkungen den Text verorten. Nach Mutter Gottes klingt der Name, gern vergeben, aber für Menschen niedrigen gesellschaftlichen Ranges als nicht angemessen geltend. Im Südbayerischen sei eine mittellose Maria auf dem Dorfe zwar im Taufregister unter diesem Namen geführt worden, gerufen habe man sie aber als "Maidl" oder, noch verkleinernder, als "Is Maidele", schreibt Miriam Unterthiner im Nachwort. Ein Name, der doch keiner ist: Hier wird exemplarisch ein Frauenschicksal ausgebreitet.
Kurzgetaktete Prosa, repetetiver Sprachstrom
Als nichtswertig gilt das Kind. Nicht nur, weil es weiblich ist. Sondern weil vor ihm auch schon "der Erstgeborene" war, ein Sohn, der nur kurz lebte. Elf Monate ist es her, dass er verstorben ist. Und nun eine Tochter, nur eine Tochter, die "erst Geborene", die unter der Last dieses Vorangegangenen geradezu gen Boden gedrückt wird. Die Mutter kurz nach der Geburt gestorben, der Vater bald überfordert von Alltäglichem – Trinken, Windel, Kleidung, Bettchen zählt der Text wie in einer Litanei auf.
"Der Vater / kümmert / sich um / … / der Vater / krümmt / sie um", heißt es in der kurzgetakteten Prosa. Krümmt sie um: Die emotionale Vernachlässigung beginnt in Marias Physis Ausdruck zu finden. "So mit. Kopf nach unten. So mit. Rücken nach vorn. So mit. Gesicht nach unten. So mit. Blick zum Boden" bewegt sich die Heranwachsende. Eine Schutzhaltung ist der sich bildende Buckel. "So mit. Nie mehr Vater sehen. So mit. Nicht mehr sich sehen." Morbus Scheuermann oder Kyphosis dorsalis juvenilis lautet die Diagnose, die das auskunftsfreudige Nachwort gibt. Umgangssprachlich als "Witwenbuckel" bezeichnet, beginne diese Deformation der Wirbelsäule im Jugendalter. Zurückzuführen sei sie auf harte körperliche Arbeit oder psychische Leiden.
Von letzteren kündet der Theatertext, der als sich langsam, aber unerbittlich voranwalzende Wörtermasse Maria zusätzlich zu bedrängen scheint. Missachtung und Schläge, eine dumpfe, repressive Atmosphäre schildert Miriam Unterthiner, ohne allzu konkret zu werden. Ein hölzernes Korsett schiebt sich in den Sprach-Strom mit seinen repetitiven, formelhaften Äußerungen – Maria wird von außen korrigiert. Wie soll das enden, wenn es so niederdrückend beginnt? Maria hat, in all ihrem Einsamkeitselend, eine:n Verbündeten: den Boden. Unten, quer über die Textseite gesetzt, fängt die als "Boden" bezeichnete Sprech-Entität Maria auf. Wiegt sie, umsorgt sie. In diesem Kleingedruckten ist Maria aufgehoben.
Wie in den griechischen Tragödien
Drei Sprech-Orte organisiert Miriam Unterthiner im Layout ihres Theatertextes. Links steht die Erzählstimme(n), die vorandrängen und mit apersonaler Distanz, aber nicht unempathisch das Geschehen beschreiben. Rechts, neben einer senkrechten Linie, die seit Marias Trennung vom Mutterkörper die Druckseite aufspaltet, ist Marias Platz. Kaum ist sie zu vernehmen. Stammelt Laute, brabbelt. Aus "nnannaa", wird "nammia" und dann, viele Seiten später, "mnamiara". Unartikulierte Laute eines Säuglings, die sich wandeln, um beinahe Anagramme des Namens Maria zu ergeben. Der "Vaterzunge", der Sprache als Machtinstrument, hat Maria lang nichts entgegenzusetzen. Bis sich ein "NEIN" formt aus Einzelbuchstaben und Silben. Und Marias Ich-Werdung als Sprachprozess vonstatten geht. "AAAAAAAAAAA" holt sie ihren Geburtsschrei nach, eignet sich ihren Namen an: "MARIA ICH".
Der "Boden" wirkt in diesem Ringen zwischen patriarchaler Sprachmacht und stummer Weiblichkeit wie eine Synthese. Ein verbindendes Element. "Der Boden" ist durchaus zu verstehen als Chor wie in den griechischen Tragödien, aber auch sehr wörtlich als der feste Untergrund, der Maria trotz allem trägt. Ihr gelingt, allem trotzend, die Emanzipation. Gegen die Begriffe aus dem Grimm’schen Deutschen Wörterbuch, die als Titel der fünf Akte von der hier übermächtigen Stellung des Vaters künden – "Vaterzunge" wie Muttersprache, "Vaterkern" wie Mutterkorn oder das Verb "vatern".
Wo der Nibelungenheld seine verwundbare Stelle trug
Peter Sloterdijks "Zur Welt kommen – zur Sprache kommen" steht Pate für Miriam Unterthiners Theatertext. Das Wort zu ergreifen heißt, bejahend die eigene Existenz zu beginnen. Ein Zitat aus Sloterdijks Frankfurter Vorlesungen zur Literatur ist dem Theatertext vorangestellt: "Was das Leben am härtesten in uns einprägen und zugleich am weitesten vor uns verstecken wollte, das schrieb es den Individuen zwischen die Schulterblätter." Den Ort, den man selbst nicht sehen, kaum berühren kann. Dort, wo der Nibelungenheld Siegfried seine verwundbare Stelle trug. Dort besteht Marias frühkindliche Prägung fort: "Zwischen den Schulterblättern bleibt Vater zu sehen. Zwischen den Schulterblättern bleibt Erstgeborener zu sehen."
Doch in dieser philosophisch gegründeten Selbst-Werdungs-Fabel gelingt Maria der Schritt nach vorne, weg vom Rücken in ihr Sichtfeld: "aus sich hinaus / spricht sich aus / spricht endlich alles aus / den Vater / die Mutter / den Ertstgeborenen / das Kind".