Willkommen in der Hölle!

Eine junge Frau kommt zu Tode. Erschlagen von ihrem Mann? "Ambulans" von Paula Stenström Öhman rekonstruiert, inspiriert von Dantes "Inferno", minutiös einen Mordfall. Ein spannungsreicher Abend, der von einem auftrumpfenden Ensemble getragen wird.

Von Verena Großkreutz

7. Mai 2023. Spooky, diese kahle, kalte Halle mit ihren eckigen Säulen. Nebelschwaden wabern gelegentlich aus den dunklen Untiefen des Raums. Eine riesige Blutlache hat sich auf dem Bühnenboden ausgebreitet. Schöne, neue Unterwelt, Labor des Unbewussten, Spielfläche für Mystisches – aber doch eigentlich nur eine Art Katakombe unterhalb der Notaufnahme eines Krankhauses.

Hier arbeiten und hier hinein verirren sich illustre Gestalten, die (fast) alle ein furchtbares Ereignis verbindet: der Tod einer jungen Frau namens Helena, die nach jahrelangen Misshandlungen von ihrem Mann Ludde erschlagen wurde. In "Ambulans", mit dem das Stockholmer Dramaten gestern im Maguerre-Saal zu Gast war, hat sich die Autorin Paula Stenström Öhman von Dantes "Inferno", dem ersten Teil seiner "Göttlichen Komödie", inspirieren lassen, weswegen auch die Sagengestalten Romulus und Remus zur Personage des Abends gehören und als ein ziemlich prolliges, shakespeareskes Duo in Erscheinung treten: Sie tragen nur verbal wolfsartige Züge und schnorren und vertickern ansonsten Medikamente. Stenström Öhman hat das Stück in Anna Heymowskas eindringlichem Bühnenbild auch gleich selbst in Szene gesetzt, gehört sie doch zum künstlerischen Leitungsteam des kooperierenden Stockholmer Lumor Teater.

Im Mittelpunkt des Geschehens steht Simon, der schwer traumatisierte, mittlerweile elfjährige Sohn der Ermordeten, für den nun Helenas Schwester Katja das Sorgerecht hat. Keine einfache Aufgabe, neigt der Junge doch zu Gewaltausbrüchen. Er rammte ihr bereits eine Schere in den Arm. Die Dramaturgie des Stücks funktioniert nach Art eines Krimis: Die Umstände des Mordes und die Frage, ob Ludde wirklich der Mörder ist, bleiben bis kurz vor dem Ende in der Schwebe. Stück für Stück wird zweieinhalb Stunden lang in Rückblenden, in Gruppengesprächen beim Jugendamt, in Simons Therapiestunde bei einer Präventionspsychologin oder durch Lesen der Klageschrift das Geschehene minuziös und mosaikartig zusammengesetzt. Was in der ersten Hälfte den Spannungsbogen noch recht straff hält, wird gegen Ende dann allerdings doch sehr in die Länge gedehnt.

4 Schauspieler:innen, 16 Charaktere

Was den Abend aber in Gang hält, ist vor allem das darstellerisch auftrumpfende, genderwechselnde Spiel des Ensembles. Schaut man ins Programmheft, ist man äußerst überrascht, dass da nur vier Schauspieler:innen-Namen zu lesen sind. Rollenswitching ist angesagt, und das Quartett ist so derart wandlungsfähig, dass auf der Bühne gefühlt 16 Personen agieren. Das ist wirklich mitreißend, wie Eva Rexed erst die taffe, aber schwer gebeutelte Schwester Katja spielt und gleich darauf ihre eigene Teenager-Tochter im Engelchenkostüm. Oder wie Nina Dahn erst die überdrehte, sich selbst belügende Helena gibt und dann absolut glaubwürdig ihren leidenden, alptraumgeplagten Sohn Simon. Oder wie Peter Järn als kontrollsüchtiger, latent gewalttätiger Ludde auftritt und dann zu dessen eigener Mutter wird, die an die Schuld ihres Sohnes nicht glauben mag.

Ambulans1 0010 von Soren Vilks KopieDas selbstvergessene Klavierklimpern der Schwestern – Eva Rexed und Nina Dahn in "Ambulans". Foto © Soren Vilks

Und große Klasse zeigt auch Jonatan Rodriguez: Eben noch ein einfach gestrickter, rauer Kneipenrocker, dann plötzlich die mit sanfter Stimme auf Simon einredende Jugendpsychologin oder Carlo, der seinen Job als Ambulanzfahrer von heute auf morgen geschmissen hat und nun im Innendienst des Krankenhauses arbeitet. Carlo war jener Fahrer, der in der verhängnisvollen Nacht Helena in die Notaufnahme gebracht hat, wodurch das eigene Trauma vom Miterleben des frühen Todes seiner Mutter getriggert wurde. Weswegen er am Ende auch der ist, der Simons psychische Heilung in Gang bringen kann.

Eine gute Idee ist, das Publikum permanent und ironisch ins Spiel zu integrieren: als Wartende einer überfüllten Notaufnahme. Atmosphärisch vorbildlich kommt auch die Musik (Saemundur Grettisson) zum Einsatz: ob als düstere Klangkollage aus Hundebellen, Martinshorn und pfeifendem Sturm oder als selbstvergessenes Klavierklimpern der Schwestern.

Zurück zur Übersicht

 

Ambulans
von Paula Stenström Öhman
auf Schwedisch mit deutschen Übertiteln
Regie: Paula Stenström Öhman, Bühne und Kostüme: Anna Heymowska, Musik und Tondesign: Saemundur Grettisson, Lichtdesign: Ellen Ruge, Dramaturgie: Anna Kölén
Mit: Jonatan Rodriguez, Eva Rexed, Peter Järn, Nina Dahn
Uraufführung: 17. September 2021
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, eine Pause
Gastspiel Dramaten in Kooperation mit dem Lumor Teater Stockholm

www.dramaten.se
www.lumorteater.se

 

 

Kein Recht zu kommentieren