Kreiere Identitäten, überrasche die Welt 

von Simone Kaempf 

März 2023. Die Identitätsfindung Heranwachsender ist mehr als kompliziert. Die sexuelle Orientierung entwickelt sich und bedeutet eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Erwartungen, mit Begehren, Körperlichkeit, dem Blick auf sich selbst. Wer sich outet oder als nicht-heteronormativ erkannt wird, erlebt, dass er nicht ernst genommen wird, erfährt Ausgrenzungen oder handfeste Diskriminierung. In der Studie "Coming-out – und dann…?!" des Deutschen Jugendinstitut gab fast die Hälfte der befragten 5000 Jugendlichen an, Abwertungen zu erleben sowohl in der engeren Familie als auch im Freundeskreis und in der Schule, Ausbildung, Universität, am Arbeitsplatz. "Werden in der Familie Geschlecht und Sexualität der Jugendlichen häufig nicht ernst genommen oder ignoriert und findet im Freundeskreis eine Überbetonung statt, sind Bildungs- und Arbeitszusammenhänge oft Orte verbaler oder körperlicher Abwertungen“, heißt es in der viel zitierten Studie, die vor sieben Jahren erschien.

Parallel zu der Entwicklung hat das Thema Gender- und Identitätsfragen im Kinder- und Jugendtheater explosionsartig an Reichweite gewonnen. Der Diskurs hat die Theater erreicht und wird von den jungen Sparten mit Gewinn und viel Background-Wissen aufgenommen, um die komplexen Zusammenhänge zu erzählen. Denn, wo es zum Beispiel um non-binäre, genderfluide, trans*, kurzum andere als die Cis-Identitäten geht, streift das permanente Ausschluss-Ängste, die auch diejenigen betreffen, die kulturell anders gelesen werden. Wo es um Rassismus geht, ist auch Sexismus ein Thema, alles gespiegelt und verstärkt durch digitale Medien und mediale Kommunikation.

Drei Kameradinnen C Kamil JanusFluide Identitäten: "Drei Kameradinnen" aus Darmstadt © Kamil Janus

Die drei für den Jugendstücke-Wettbewerb eingeladenen Arbeiten greifen diese Themen auf, berufen sich teils auf zeithistorische Fakten, aber rütteln an Identitätsfesten und loten die Innenwelten der Figuren aus, ihre Wünsche, Sehnsüchte, Haltungen und Ängste jenseits einfacher Zuschreibungen. Zwei Stückentwicklungen sind darunter: "Out there" vom Jungen Schauspielhaus Hamburg und "What the Body?!"vom Theater im Marienbad in Freiburg. Und eine Roman-Bearbeitung: Shida Bazyars Buch "Drei Kameradinnen“, das 2021 für den Deutschen Buchpreis auf der Longlist nominiert war und von Regisseurin Isabelle Redfern am Theater Darmstadt adaptiert wurde. Bazyar steht in einer Reihe neben den Schriftstellerinnen Olivia Wenzel, Deniz Ohde oder Mithu Sanyal, deren Romane jüngst inszeniert wurden. "Für diese Autor:innen ist es vermutlich naheliegender, Romane zu schreiben als fürs Theater“, erklärt der Darmstädter Dramaturg Maximilian Löwenstein, warum derzeit mehr Prosa als originäre Theatertexte zu diesen Themen entstehen, "alle arbeiten auch ganz stark mit dem Wille zum Empowern, wollen Zugänglicheit schaffen und sind interessiert, eine Breite Masse zu erreichen. Und der Fokus liegt beim Roman nicht so sehr auf dem Formalen als auf einer Lust am realistischen Erzählen.“ 

Ausgangspunkt Pubertät

Der andere Weg ist, die Stücktexte selber zu entwickeln. Die Schauspielerin Lisa Bräuniger, Regisseurin Anne Wittmiß, Theatervermittlerin Mareike Mohr und Dramaturgin Anna Fritsch haben in Freiburg für "What the Body?!" mit Jugendlichen in Einzelinterviews gesprochen, Fragebögen für Klassen entwickelt und auch Workshops gehalten, um Text- Material für ihr Stück über Körper und Körperwahrnehmung zu sammeln. Lisa Bräuniger spielt den Text allein, in einem leeren Raum ohne Stühle, für bis zu 70 Zuschauer:innen. Eine besondere Spielsituation, in der es erst einmal heißt: gehen, tanzen, in Bewegung kommen. Die Musik ist laut, eine Disko könnte dieser Raum sein oder auch ein leeres Klassenzimmer. Bräuniger dirigiert mit Gesten und Körpersprache. Ihr Text schlägt weite Bögen von dem Funfact der Delphine, die alle zwei Stunden ihre äußeren Hautzellen abstoßen, zur Tatsche, dass immer etwas zu groß, zu klein, zu rund, zu definiert, zu männlich, zu weiblich ist. Es geht um die Veränderungen des Körpers, um Formen und ums Umformen streckenweise in Jelinek'scher Sprachfreude. Und um konkrete Klassenzimmer-Situationen mit Detail-Szenen, aus denen die subtile Angst vor permanentem Ausschluss spricht: "Ich greife unter dem Tisch die Haare an meinen Unterarmen. Reflexartig ziehe ich an meinem Ärmel, bevor ich mich melde.“

Bräuniger selber tritt wie ein undefiniertes, verzerrtes SciFi-Wesen auf. Die Plateau-Schuhe viel zu hoch, die Beine seltsam lang. Die Sonnenbrillengläser zu dunkel, der Mund zu weit links so wie auch der Text Abweichungen aufgreift: "Du siehst Deinen Körper wachsen, hier ein extra Bein. Da die Haut viel zu groß, 13 Finger insgesamt, Knoten in den Armen."Es geht weder um Sexualität noch um konkrete geschlechtliche Identitäten, am Ende heißt die Botschaft: niemand sonst ist wie Du. Oder auch: "Mix und Match, kreiere Identitäten. Überrasche Dich, überrasche die Welt." "Wir haben uns schon sehr mit der Frage beschäftigt, wer sich alles in diesem Stück wiederfinden kann. Der Ausgangspunkt Pubertät ist deshalb gut, weil alle Körper sich verändern und ein Eigenleben entwickeln", erzählt Regisseurin Anne Wittmiß.

 

WHAT THE BODY by MiNZKUNST0004Lisa Bräuniger in "What The Body" vom Theater im Marienbad aus Freiburg © Minz & Kunst

Auch "Out There"ist auf besondere Weise entstanden. Ausgangsidee während der Pandemie war, eine heutige Liebesgeschichte zweier Jugendlicher zu erzählen, die sich annähern, verlieben und ihre Emotionen aus ihren Zimmern via Social Media miteinander teilen. Die Projektskizze stammt von der Regisseurin Dominique Enz. Stanislava Jević, Dramaturgin am Jungen Schauspielhaus Hamburg, hat den Text weiterentwickelt zu einem Stück über Geschlechter-Identität und aktuellen Fragen nach sozialem Milieu, politischer Teilhabe und Aktivismus. Angelina ist strebsam, Klassenbeste, wohnt in beengten Sozialbau unterm Dach und ist damit beschäftigt, die hohen Erwartungen ihrer Eltern aus dem migrantischen Milieu zu erfüllen. Auf einer Friday for Future Demo hat sie eine Rede gehalten. Leo wiederum hängt rum, switcht zwischen den gutsituierten geschiedenen Eltern und befindet sich im Prozess, sich als genderfluid zu outen. "Out there" nutzt die biografischen Schnipsel für die Erkundung eines utopischen Zusammentreffens jenseits der von den Eltern vorgelebten Rollen und Muster. Gespielt wird der Abend auf zwei Bühnen mit geteilten Zuschauergruppen. Fast klassisch durchleben die beiden Jugendlichen (absolut mitreißend gespielt von Alicja Rosinski und Emma Bahlmann) eine Verwirrungs- und eine Klärungsphase, bis sie sich am Ende wiederfinden und aus den Türen in eine gemeinsame Zukunft treten. 



Neue Lebemsmodelle erkämpfen

Solch ein Happy End ist "Drei Kameradinnen" fern. Die Adaption von Shida Bazyars Roman erzählt von Saya, Hani und Kasih, aufgewachsen im Wohnblock am Rande einer Großstadt. Sie sind mehr als Freundinnen, sondern Verbündete, die keiner migrantischen Minderheit angehörigen wollen. Sanya ist meist wütend, Hani plädiert fürs Ignorieren aller Probleme, Kasih sehnt sich nach Normalität. Binnen weniger Tage spitzen sich die Ereignisse zu. Sanya reist für die Hochzeit einer Bekannten an, sitzt im Flugzeug neben einem Neonazi, dessen Wohnhaus am Ende in Flammen aufgeht. Kasih nimmt doch den Job an im "Migrationsdienst" irgendwo in Bayern. Parallel beginnt eine an den NSU-Prozess erinnernde Gerichtsverhandlung, auf die alle drei unterschiedlich reagieren. Die Brandanschläge, in deren Folge die Ermittlungsbehörden und Medien jahrelang die Opfer zu Verdächtigen machten, sind ein Angelpunkt des Romans.

Regisseurin Isabelle Redfern erzählt die Geschichte auf der Bühne einerseits wie in einem Stationen-Drama. Andererseits bricht vor allem Kasih als Erzählerin (gespielt von Süheyla Ünlü) in kleinen Volten die Wahrheiten auf, führt einen aufs Glatteis und richtet sich ironisch ans Publikum. Eine der drei Freundinnen, Sanya, wird als Attentäterin inhaftiert, warum, weshalb, bleibt jedoch offen. Geschlechter-Identität streift die Erzählung wie nebenbei. Als Kasih mit ihrem deutschen, weißen Freund zusammenzieht, ist eine Zeit lang alles einfach und erfüllt sich die Sehnsucht nach Normalität. Das bleibt allerdings Episode in dem Freundinnensoziotop, in dem die Wünsche und Wahrheiten überkreuz gehen. Auch diese Inszenierung zeigt stellvertretend, wie das Kinder- und Jugendtheater fluide Identitäten in den Mittelpunkt stellt und davon erzählt, wie derzeit neue Lebensmodelle erkämpft werden.

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Out There 

von Stanislava Jević
nach einer Idee von Dominique Enz
Regie: Dominique Enz, Bühne und Kostüme: Katrin Plötzky, Komposition: Matthias Schubert, Video: David Schulz, Dramaturgie: Stanislava Jević, Mitarbeit Text: Dominique Enz.
Mit: Emma Bahlmann, Alicja Rosinski.
Dauer: 90 Minuten
Premiere am 22. Mai 2022


www.junges.schauspielhaus.de


What The Body?! 

Eine Stückentwicklung von Lisa Bräuniger/Anne Wittmiß/Anna Fritsch

Regie/Fassung/Ausstattung: Anne Wittmiß, Dramaturgie/Lektorat/Fassung: Anna Fritsch, Musik: Siri Thiermann, Theatervermittlung: Mareike Mohr
Mit: Lisa Bräuniger. 

Ab 13 Jahre
Dauer: 60 Minuten

Premiere am 15. Oktober 2022


marienbad.org





Drei Kameradinnen

von Shida Bazyar
Fassung von Golda Barton

Uraufführung

Regie: Isabelle Redfern, Bühne: Lani Tran-Duc, Kostüme: Flavia Stein, Musik: Anton Berman, Choreografie: Ute Pliestermann, Dramaturgie: Maximilian Löwenstein.
Mit: Süheyla Ünlü, Mariann Yar, Naffie Janha, Jasmin-Nevin Varul, Béla Milan Uhrlau, David Zico, Stefan Schuster. 

Dauer: 1 Stunde 45 Minuten

Premiere am 1. Oktober 2022

staatstheater-darmstadt.de

Mehr zum Thema Gender und Identitätsfragen im Jungen Theater: auf nachtkritik.plus diskutierten dazu jüngst Suna Gürler (Regisseurin und Leiterin der Jugendclubs am Schauspielhaus Zürich), Ulrich Hub (Autor und Regisseur), Katrin Hylla (Regisseurin und Co-Leiterin der Schwankhalle Bremen) Moderation: Georg Kasch.

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