Und draußen der Tod

Hoffnungslosigkeit, Einsamkeit und blutige Verrichtungen im alltäglichen Überlebenskampf: Thomas Krupa hat Marlen Haushofers Roman "Die Wand" als Virtual-Reality-Film adaptiert.

Von Falk Schreiber

4. Mai 2023. Marlen Haushofers 1963 erschienener Roman "Die Wand" gilt heute als zentraler Text im Ökofeminismus, der auch schon mehrfach fürs Theater adaptiert wurde. Allerdings noch nie so konsequent wie von Thomas Krupa am Schauspiel Essen: Der zeigt die verhältnismäßig handlungsarme Science-Fiction-Geschichte als Virtual-Reality-Film, der dem Publikum die Möglichkeit gibt, tief in den Roman einzutauchen. Theater lässt sich das aufwendig vorproduzierte Experiment allerdings kaum nennen: Es gibt keine körperliche Kopräsenz von Schauspieler:innen und Publikum, der Zufall spielt in den Aufführungen von "Die Wand (360°)" keine Rolle. Krupas Projekt ist damit näher am Kino als am Theater.


Was nichts an der Faszination des Abends ändert. Eine namenlose Protagonistin (Floriane Kleinpaß) fährt mit einem befreundeten Paar (Stefan Migge und Sabine Osthoff) ein Wochenende in die Berge. Abends geht das Paar noch auf ein Getränk ins Dorf, die Protagonistin bleibt allein zurück – um am nächsten Morgen festzustellen, dass sich eine unsichtbare Wand in einem gewissen Umkreis um die Ferienhütte herabgesenkt hat, alle Menschen und Tiere außerhalb sind anscheinend tot. Nach und nach beginnt sie, sich mit der Situation zu arrangieren; begleitet von einem Hund (Alexey Ekimov) und weiteren Tieren, die nach einer Weile aus dem Wald auftauchen, geht sie auf die Jagd, ernährt sich von den Pflanzen der Umgebung. Und als eines Tages ein zweiter Überlebender (Stefan Diekmann) überraschend auftaucht (und den Hund erschlägt), erschießt sie den Eindringling kurzerhand – den Ausweg in eine Robinsonade verschließt Haushofer gleich wieder.

Hier lebt nichts mehr

All das erzählt Krupa ziemlich genau so nach wie im Roman – dass einzelne Aspekte verändert sind (bei Haushofer etwa hat die Protagonistin ein Sommerquartier abseits des Ferienhauses auf einer Alm aufgeschlagen), hat wohl mehr mit den Begrenzungen des Arbeitsspeichers zu tun als mit einem echten inhaltlichen Eingriff in die Vorlage. Und was hier an Daten verarbeitet wird, ist tatsächlich beeindruckend: Man bewegt sich durch ein genau ins Virtuelle nachgebautes, brutalistisches Ferienhaus, man folgt der Protagonistin ins Bad, ins Hochbett, in den Garten. Weiter reicht, wie gesagt, der Speicher nicht, was den Kosmos der Inszenierung ähnlich beschränkt wie die Wand im Roman den Radius der Heldin. Weniger schön: Man ist auch ganz nah dran an blutigen Verrichtungen, die im alltäglichen Überlebenskampf so anfallen, etwa wenn ein entzündeter Zahn gezogen werden oder eine offene Wunde ohne Betäubung genäht werden muss. "Die Wand (360°)" ist also eine durchaus unmittelbare Erfahrung, die freilich wenig mehr erzählt als das, was Haushofer ohnehin schon geschrieben hatte.

07 filmstill die wand szene 36 c collective archives kleinGerade noch intakt, bald von der Natur überwuchert – Floriane Kleinpaß in ihrem Ferienhaus in "Die Wand (360°). © Collective Archives

Nur einzelne zwischengeschnittene Szenen gehen über die Romanhandlung hinaus: Langsam fährt der Blick durch Stadtlandschaften, die an einen zugigen Nicht-Ort wie den Berliner Alexanderplatz oder den Essener Bahnhofsvorplatz erinnern. Und hier ist alles Leben wie versteinert; zu Beginn sind die Wolkenkratzer noch mit Werbeflächen und Neonschriften versehen, gegen Ende wirkt alles wie unter einer Eisschicht begraben. Man hört die Stimme der Protagonistin, die überlegt, dass es außen vielleicht noch irgendwelches Leben geben müsste, aber man sieht: Hier lebt nichts mehr. Das ist eine Konkretisierung, die Krupa vornimmt, anscheinend war ihm wichtig, die Ungewissheit, die bei Haushofer drohend über dem Monolog der Figur hängt, aufzulösen.

Ob das ein Gewinn ist? Ähnlich wie die Stadt verschwindet auch die Ferienhütte nach und nach, das Dach wird undicht, die luxuriöse Küche wuchert zu, die Steuerung des Smarthomes hat sich längst gemeinsam mit dem Internet verabschiedet. Das ist in der Ausstattung überzeugend (VR-Artist: Tobias Bieseke), es ist inhaltlich beunruhigend, und darstellerisch ist es eine Meisterleistung von Kleinpaß. Weswegen dieser Film nach einem 60 Jahre alten Prosatext allerdings zu einem Festival eingeladen ist, das sich wie der Heidelberger Stückemarkt auf zeitgenössische Dramatik konzentriert (auch der seit drei Jahren existierende "Netzmarkt" sollte doch bestenfalls diesem Fokus folgen), das erschließt sich nicht von selbst.

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Die Wand (360°)
nach dem Roman von Marlen Haushofer
VR-Fassung von Thomas Krupa
Regie und Bühne: Thomas Krupa, VR-Artist: Tobias Bieseke, Kostüme: Moni Gora, Musik: Hannes Strobl, Spatial Audio Postproduction: Thomas Koch, Produktions- und Ausstattungsleitung: Friederike Külpmann, Dramaturgie: Carola Hannusch, Vera Ring, VR-Applikation: Jan Schulten, Technische Koordination VR-Equipment: Markus Hesse
Mit: Stefan Diekmann, Alexey Ekimov, Floriane Kleinpaß, Stefan Migge, Sabine Osthof
Premiere 2. September 2022
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.theater-essen.de

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