Theater für eine hybride Welt

Februar 2023. Die erste Spielzeit ohne Corona-Nachwirkungen liegt hinter uns. Die Theater füllen sich wieder mit Publikum. Was bedeutet diese Entwicklung für die digitalen performativen Künste? Bei der Kuratierung des Netzmarkts war einerseits ein deutlicher Rückgang in der Anzahl digitaler Performances zu verzeichnen, andererseits war eine Professionalisierund und Ausdifferenzierung der Szene zu beobachten.

Von Lea Goebel

Im vergangenen Herbst besuchte ich das viertägige PAD (Performing Arts & Digitality) Festival in Darmstadt. Zwischen Vorträgen am Tag und Gastspielen am Abend drängte sich plötzlich bei mir und vielen der Beteiligten das Gefühl auf: Das hier ist ein Klassentreffen – eine schöne und gleichzeitig ernüchternde Einsicht. Die Theatermacher:innen, die über die Pandemie hinaus an das Potenzial digitaler Künste glauben und weiterhin an digitalen Produktionen und deren Sichtbarkeit arbeiten, kennen sich. Das ist schön, weil man sich gegenseitig helfen, austauschen, empowern kann. Das ist ernüchternd, weil es immer wieder ein überschaubarer Kreis an Menschen und Mitstreiter:innen ist. Dieses Gefühl bildet exemplarisch meine Sichtungserfahrung für die diesjährige Netzmarkt-Ausgabe ab. Normalerweise schaue ich mir über das Jahr hinweg digitale Produktionen an und erstelle daraufhin eine Longlist für die anderen Jurymitglieder. Diese wird diskutiert und dann werden drei Produktionen zum Netzmarkt eingeladen. Die Eckdaten waren auch dieses Mal die gleichen, die Erkenntnisse hingegen andere. Denn es handelte sich um die erste "reguläre" Spielzeit vieler Theater – eine, die nicht im Lockdown oder in dessen Nachwehen stattfand. Wie sieht die digitale Theaterlandschaft also im dritten Jahr Netzmarkt aus? Welche Veränderungen oder Trends lassen sich ablesen?

Verglichen mit dem ersten Jahr, in dem die Theater durch die Pandemie größtenteils digital arbeiteten, lässt sich feststellen: Es gibt weniger digitale Produktionen, die es überhaupt zu sichten gilt. Die Gründe dafür sind sicherlich vielschichtig. Der Backlash der Bewegung resultierte zunächst aus dem Wunsch, Theater wieder als physische Begegnungsstätte zu erleben. Denn das hatten die meisten vermisst, das Miteinander, die Kopräsenz im gleichen Raum und allem, was dazugehört. In Kombination mit dem vermeintlichen Publikumsschwund und der Sorge der eigenen Relevanz in der medialen Konkurrenz ging es erst einmal um Restabilisierung. Zum anderen gab es natürlich auch Theater, die nicht an das Digitale glaubten oder schlicht zu wenig positive Erfahrungen mit den neuen Formen und Formaten gemacht hatten, um diese weiterzuverfolgen.

Unter dem theaternetzwerk.digital kamen im April 2021 verschiedene Theaterhäuser zusammen, die das Ausprobieren neuer Technologien und digitale Erzählungen als zukunftsweisend empfanden, sich vernetzen und den digitalen künstlerischen Arbeiten und deren dazugehörigen Produktionsweisen öffnen wollten. Ein vielversprechender Zusammenschluss, der dem Themenkomplex "Digitales Theater" u. a. eine hilfreiche Öffentlichkeit brachte. Gleicht man diese Liste nun mit den dazugehörigen Spielplänen ab, fällt die Bilanz mager aus: Nur wenige der unterzeichnenden Institutionen produzieren und experimentieren tatsächlich knapp zwei Jahre später noch mit und an digitalen Inszenierungen. In der freien Szene hingegen bemerkt man Kontinuität. Die Theatermacher:innen und Kollektive – wie etwa machina eX, minus.eins, Janne Kummer, allapop, Internil, BoatPeopleProjekt, OutOfTheBox oder Interrobang – die sich auch schon vor der Pandemie mit dem Digitalen beschäftigten, setzen sich weiterhin mit virtuellen Welten und Spielräumen auseinander sowie neuen Narrativen mithilfe von digitalen Tools.

Digitale Nachhaltigkeit

Haben die Kritiker:innen, die dem digitalen Theater schon früh eine kurze Halbwertszeit prophezeiten, also recht gehabt? Mitnichten. Denn es gibt auch ermutigende Beispiele. Wenn auch vereinzelt, so gibt es Häuser, die ihre gesammelten Erfahrungen zu digitalen Sparten (etwa das Theater Augsburg) ausbauen. Sie sehen im digitalen Theater nicht nur eine temporäre Lösung, sondern zum Beispiel eine Möglichkeit, neue Zielgruppen zu erreichen und den Theaterbesuch für alle zugänglicher zu machen. Oder sie beschäftigen sich institutionell mit der Frage, welche Bereiche und Gewerke »hinter der Bühne« bei einem solchen Prozess im Sinne einer digitalen Nachhaltigkeit mitbedacht werden müssen. Das HAU Hebbel am Ufer in Berlin hat die neue Spielstätte, das HAU 4, etabliert. Dort werden Projekte präsentiert, die eigens für den Online- oder hybriden Raum entwickelt werden. Das Berliner Ensemble setzte mit dem Theaterfilm "Rot – Die Outtakes des Fabian Michael Möntges" und der erfolgreichen Live-Performance mit Virtual Reality "Berlau:: Königreich der Geister" gleich zwei digitale/hybride Produktionen auf den Spielplan. Ebenso wie das Staatstheater Nürnberg mit dem Twitch-Projekt "Pan’s Lab. Ein Tip in den Kaninchenbau des Digitalen" und der hybriden Talkshow "Odysseus.live". Das Burgtheater nutzte seinen TikTok-Account zuletzt, um die Inszenierung "Der Zauberberg" digital zu begleiten, ihren Follower:innen Challenges zu stellen und so mit dem Publikum in Kontakt zu treten.

12 filmstill die wand szene 49 c collective archives redDer Kampf im Digitalen um die Natur – "Die Wand" nach dem Roman von Marlen Haushofer, VR-Fassung von Thomas Krupa, Schauspiel Essen © Collective Archives (Filmstill)

Zwei Tendenzen sind mir während des Sichtens vor allem ins Auge gesprungen. Zum einen setzen einige Theater (darunter zum Beispiel das Puppentheater Zwickau oder das Schauspiel Essen) auf VR-Produktionen. Das Theater Augsburg versucht sich mittlerweile mit dem Elektro-Theater, einer Social-VR-Infrastruktur, die es ermöglichen soll, im selben Raum zu spielen und Theater zu erleben, ohne sich notwendigerweise denselben physischen Raum zu teilen, an VR-Erlebnisse in Echtzeit. Zum anderen sind hybride Inszenierungen im Kommen. Die jeweilige Definition von "hybrid" befindet sich derzeit in einem spannenden Findungsprozess. Bedeutet das, die Produktion muss in einem klassischen Bühnen-Setting stattfinden und gleichzeitig online per Stream abrufbar sein? Oder geht es eher um die Erweiterung der realen Umgebung im Theaterraum mithilfe digitaler Mittel wie beispielsweise VR-Brillen oder Augmented-Reality-Anwendungen? Oder aber, und das glaube ich, vielmehr, geht es gar nicht mehr nur um die strikte Trennung von "analog" und "digital", sondern um eine sinnvolle Verschmelzung in der Wahl der Mittel, der Ausspiel-Kanäle, Technologien, Texte und Erzählweisen sowie Spielorten. Für jüngere Generationen scheint diese Trennung mittlerweile hinfällig, sie wachsen in einer hybriden Welt auf. Diese bewegt sich ohnehin rasend schnell. Vielleicht wird im nächsten Jahr Künstliche Intelligenz das beherrschende Thema sein. Allein der Einfluss von ChatGPT auf den Literatur- und Kulturbetrieb wird derzeit stark diskutiert. KI wird Einfluss nehmen, das steht fest, es geht eher darum, wie man ihr begegnet – möglicherweise kann man in ihr mehr Chancen sehen als gedacht und nicht nur Herausforderungen und die Sorge vor der eigenen Abschaffung.

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Lea Goebel ist seit der Spielzeit 2018/2019 Dramaturgin am Schauspiel Köln. Sie studierte Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft sowie English Studies in Bonn und an der Université Paris-Sorbonne. Sie verbindet u. a. Arbeitserfahrungen mit Luk Perceval, Frank Castorf, Jürgen Flimm und Mina Salehpour. Lea Goebel ist Teil der "Digitalen Dramaturgie" und des Koordinationsteams des dramaturgie-netzwerks. Seit 2021 kuratiert sie für den Heidelberger Stückemarkt den Netzmarkt.

 

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