Digitale Katastrophen

"Über Leben" von Annalena und Konstantin Küspert sperrt die Menschheit in ausgeklügelte Krisensimulationen. Ruven Bircks zeigt die Szenenfolge in Dortmund als Live-Film mit trashigem Charme.

Von Falk Schreiber

1. Mai 2023. Im Jahr 1991 baute der Milliardär Edward Bass den Gebäudekomplex "Biosphere 2" nördlich von Tucson, Arizona. Die Idee war, eine Gruppe von Menschen in der Anlage autark leben zu lassen und aus den Beobachtungen Schlüsse unter anderem für die mögliche Besiedlung ferner Planeten zu ziehen. Nachdem zwei Versuche scheiterten, wurde das Experiment abgebrochen, "Biosphere 2" gilt als Flop, auch wenn das abgeschottete Leben sich nicht zum dystopischen Alptraum entwickelte, wie in der Presse behauptet wurde. Die Gründe für das Scheitern waren weitgehend profaner Natur: Bestimmte Insekten vermehrten sich zu schnell, es gab Ernteausfälle, die Sauerstoffkonzentration in den Gebäuden war falsch berechnet.

Transparentes Technikspiel

Annalena und Konstantin Küspert bauen in ihrer Szenenfolge "Über Leben" eine "Biosphere 2"-ähnliche Anlage nach, setzen die Menschen dort allerdings nicht dem Alltagsdasein aus, sondern diversen Katastrophen. Es geht darum, ob die Menschheit in der Lage ist, mannigfaltige Krisen zu überleben. Und falls ja – wer hat dann was davon? Was bleibt, was wird von uns erinnert? Es gibt Strategien, das Menschheitserbe zu konservieren, die beiden Voyager-Sonden etwa taumeln seit 1977 durch das All und tragen zwei Exemplare der sogenannten "Voyager Golden Record" mit sich, Datenplatten, auf denen Grüße an ferne Zivilisationen gespeichert sind – Bilder, die das Leben auf der Erde dokumentieren, Musikstücke von Mozart, Chuck Berry, Walja Balkanska. Die Kultur der Menschheit, komprimiert als digitaler Datensatz.

Bei der Uraufführung am Theater Münster zeigte Ronny Jakubaschk den Text noch als auf der Bühne gespieltes Informationstheater. Die Zweitinszenierung von Ruven Bircks in Dortmund nimmt den digitalen Erzählstrang ernster und verlagert den Großteil der Aktion selbst in den digitalen Raum: Gespielt wird als Live-Film, der allerdings nicht mit der Virtuosität gedreht ist, mit der dieses Medium mittlerweile recht häufig im Theater eingesetzt wird. In Dortmund kommt der Film als transparentes Technikspiel daher, bei dem der Kameramann (im Programmheft ist Daniela Sülwold angegeben, die allerdings fiel für das Gastspiel beim Heidelberger Stückemarkt aus) auf Elizaweta Veprinskajas Bildschirm-ähnlicher Bühne sichtbar bleibt, Szenenwechsel werden nicht durch klug gesetzte Schnitte deutlich gemacht, sondern, indem sich die Kamera zur Seite dreht. Ein wenig trashig, ein wenig selbstgebastelt wirkt das, verdeutlicht allerdings, in welcher desolaten Situation sich die Beteiligten befinden.

 Uber Leben Foto Florian Durkopp 6086Krisseliges Leinwandspektakel © Florian Dürkopp

Durchgespielt werden mehrere Katastrophen: Der Absturz eines Flugzeuges in den Anden in den Siebzigerjahren etwa, bei dem die Überlebenden die sterblichen Überreste der Toten verspeisten, wird von Nika Mišković und Sarah Quarshie als drastisch-absurde Kochshow gezeigt. Und den Untergang der "Titanic" performen Alexander Darkow und Ekkehard Freye als zu Herzen gehende Lovestory. Immer im Bewusstsein: Wir sind nur Teil einer Simulation, wir spielen nur den Tod, die Grausamkeit, die Hoffnungslosigkeit. Wobei die Darsteller:innen tatsächlich ziemlich schnell derangiert daherkommen, der Wahnsinn, der sich in ihrem flackernden Blick abbildet, ist der Wahnsinn, den man den menschlichen Versuchskaninchen in der "Biosphere 2" andichtete.

Glaubensziel: der kollektive Suizid

Zunächst ein bisschen schade wirkt, dass alle vier Darsteller:innen ähnliche Typen sind: Muskulöse Gestalten, denen man einen Kampfeinsatz zutrauen würde, und die dann an ihrer eigenen Härte zugrunde gehen – Darkow jedenfalls demonstriert zu Beginn hübsch das korrekte Abrollen beim Sprung aus dem ersten Stock und hat natürlich trotz dieses Souveränitätsbeweises keine Chance. Aber tatsächlich fügt sich das ganz gut in Bircks’ Trash-Ansatz: Im B-Movie erwartet man ja auch keine differenzierten Charaktere, sondern vor allem möglichst heftige Zukunftsvisionen. Und die bietet der Abend: Mit der Ankunft der apokalyptischen Reiter, bei denen die Beteiligten feststellen, dass Sex oder Religion auch noch mitreiten sollten. Oder mit den netten Spießern, die in die Fänge einer Weltuntergangssekte geraten und zu spät merken, dass deren Glaubensziel der kollektive Suizid ist.

"Über Leben" macht Spaß, in seiner Freude am Grausamen, in seiner ehrlichen Hoffnungslosigkeit. Dass sich der Abend dennoch nur bruchstückhaft erschließt, hat mit den Eigenarten dieses Stücks zu tun, das immer weitere Hintergrundinformationen verlangt, zum Mythos von Atlantis etwa oder zur Flugzeugkatastrophe am 13. Oktober 1972. Im Cyberspace hätte man wahrscheinlich all diese Informationen sofort parat, im Theater aber muss man sie sich im Anschluss zusammensuchen. Oder man gibt sich einfach dem Science-Fiction-Horror dieser hübschen, kleinen Inszenierung hin, der Untergang lässt sich vielleicht auch nicht bis ins Letzte verstehen.

Über Leben
oder ἀτλαντὶς νῆσος. oder näher, mein gott, zu dir. oder alles war für immer bis es aufhörte

von Annalena und Konstantin Küspert
Regie: Ruven Bircks, Bühne, Kostüme und Video: Elizaweta Veprinskaja, Musik: houaïda, Live-Kamera: Daniela Sülwold, Dramaturgie: Christopher-Fares Köhler, Licht: Stefan Gimbel, Ton: Robin Lockhardt-
Mit: Alexander Darkow, Ekkehard Freye, Nika Mišković, Sarah Quarshie.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

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