Welche Bühnen braucht der Text?

März 2023. Wenige Tage nach dem Heidelberger Stückemarkt, startet Mitte Mai in Berlin das alljährliche Theatertreffen – mit einer Neuerung, die speziell Dramatiker:innen in Aufruhr versetzt: einen Stückemarkt wird es hier in Zukunft nicht mehr geben. Wir baten Matthias Pees, Intendant der Berliner Festspiele, die das Theatertreffen veranstalten, und Holger Schultze, Intendant des Theater Heidelberg, das den Heidelberger Stückemarkt ausrichtet, zum Streitgespräch über das Format Stückemarkt.

Matthias Pees, 1978 wurde der erste Stückemarkt im Rahmen des Berliner Theatertreffens gegründet. Jetzt haben Sie ihn abgeschafft. Warum?

Matthias Pees: Als der Stückemarkt gegründet wurde, war die zeitgenössische Dramatik auf den großen Bühnen im Vergleich zu Stücken aus dem literarischen Kanon deutlich unterrepräsentierter als heute. Heute ist neue Dramatik in den Spielplänen nicht nur präsenter, sondern auch der Begriff der neuen Dramatik hat sich erweitert. Längst existieren viele verschiedene Formen und Genesen von Stücktexten nebeneinander. Dramatische Texte entstehen nicht mehr nur einsam am Schreibtisch. Es gibt kollektive oder projektorientierte Entstehungsformen von Texten, oder prozessuale – etwa von Autor*innen, die zugleich Regisseur*innen sind. Meines Erachtens hat sich der Stückemarkt im vergangenen Jahrzehnt deshalb nicht nur internationalisiert – was übrigens mit einem enormen, aber letztlich nicht ausreichend vielfältigem Übersetzungsaufwand einherging –, sondern sich nachvollziehbarer Weise auch dem kollektiven, projekthaften Entstehen von Theatertexten geöffnet. Neue Dramatik ist auch durch diese Entwicklungen und Erweiterungen viel präsenter auf den Bühnen.

 

Und bedarf keines eigenen Stückemarktes mehr im Rahmen des Theatertreffens?

Matthias Pees: Der Stückemarkt war zuletzt ein sehr aufwändiger Wettbewerb mit weltweiter Ausschreibung, eigener Künstler*innen-Jury und vorauswählenden Dramaturg*innen, aber mit viel zu kleinem Budget und Umfang – und im Ergebnis deshalb zu disparater Wirkung. Ein großes, aber trotz des Engagements aller Beteiligter aus meiner Sicht gar nicht mehr einlösbares Versprechen. Zumal es in Berlin mit den Autor*innentheatertagen am Deutschen Theater mittlerweile ein erfolgreiches Festival gibt, das sich exklusiv neuen Theatertexten widmet und für die Förderung zeitgenössischer Dramatik wichtiger als der Stückemarkt des Theatertreffens geworden ist. Deshalb fragten wir uns tatsächlich, ob es speziell dieses besondere Förderinstrument für neue Dramatik, diesen Neben-Wettbewerb beim Theatertreffen noch braucht.

Die Meldung, dass der Stückemarkt abgeschafft wurde, haben insbesondere viele Dramatiker:innen öffentlich kritisiert. Ihrer Meinung nach reicht die Förderung neuer Dramatik nach wie vor nicht aus. Holger Schultze, auch der Heidelberger Stückemarkt hat sich kollektiveren Autor:innenschaften geöffnet, dennoch unterstützen Sie im Wesentlichen nach wie vor den – wie es gerade beschrieben wurde – einsamen Autor, die einsame Autorin an seinem*ihrem Schreibtisch. Warum?

Holger Schultze: In vielen Theatern führt das zeitgenössische Autor*innen-Theater nach wie vor ein Nischendasein und ich finde es ungeheuer wichtig, durch Festivals – auch hinsichtlich der Publikumswahrnehmung – eine Verdichtung zeitgenössischer Stücke zu erlangen sowie ein Forum für Autor*innen. Wir müssen uns klarmachen: Es gibt, nachdem beim Theatertreffen der Stückemarkt abgeschafft wurde, nur noch drei Autor:innenfestivals in Deutschland. Es gibt die Mülheimer Theatertage, es gibt die Berliner Autor:innentheatertage und es gibt Heidelberg. Meines Dafürhaltens reicht das überhaupt nicht. Wir haben immer noch das große Problem, dass Autor*innen kaum nachgespielt werden. Ich finde es ungeheuer wichtig – gerade in einer Zeit, wo nach Corona Gelder knapper werden, Autor*innen zu fördern und damit auch eine Auseinandersetzung mit unserer Gegenwart auf literarischer Ebene. Das Lustige ist ja: Auch das Theatertreffen lebt letzten Endes von Autor*innen. Schauen wir uns doch mal die Einladungen zum Theatertreffen an, Matthias Pees, ich habe da lauter Stücke gesehen, wenn ich lesen kann – mit vielleicht ein, zwei Gegenbeispielen. Aber Autor*innen leben nicht nur von Aufträgen, sondern auch von der Wahrnehmung, über Preise bei Festivals.

Matthias Pees: In der Auswahl des Theatertreffens, also in unserem Hauptwettbewerb sozusagen, ist die zeitgenössische Dramatik, wie es Holger Schultze gerade beschrieben hat, mittlerweile jedes Jahr großräumig, oftmals sogar überwiegend vertreten – im engeren Sinne von Ur- und Erstaufführungen und im weiteren Sinne mit Projekt- und Stückentwicklungen oder gegenwartsdramatischen „Interventionen“ wie jetzt in der „Nora“ von den Münchner Kammerspielen. Deswegen braucht das Theatertreffen dafür keinen eigenen Wettbewerb mehr. Zumal der Stückemarkt mir für die explizite Förderung neuer Dramatik innerhalb des Theatertreffens zuletzt zu nischig vorgekommen ist, zu nebensächlich. Dafür braucht es dann wohl tatsächlich ein eigenes Festival.

Holger Schultze: Aber Matthias Pees, das wäre doch eine wunderbare Aufgabe, in Berlin sitzend, an der Quelle der Festspiele, ein Autor:innenfestival zu gründen! Ich finde nicht, dass genug zeitgenössische Dramatik stattfindet. Schauen Sie sich die Spielpläne der Theater doch an: Es gibt immer ein paar Mainstream-Stücke, die gespielt werden. Dann gibt es die berühmten Nischen-Stücke, die gespielt werden, damit endlich mal die überregionale Presse zu einer Uraufführung kommt. Aber wo gibt es denn die Kontinuität für Autor*innen in der Auseinandersetzung mit Theater, in der Auseinandersetzung mit Gegenwart? Ich glaube, dass Festivals sehr wichtig sind, um nicht nur eine Aufmerksamkeit, sondern auch eine Nachhaltigkeit zu erreichen.

Hätten die Berliner Festspiele den Stückemarkt auch vergrößern können – eben damit er gegenüber dem Hauptprogramm nicht mehr so nischig ist?

Matthias Pees: Ich denke nicht, dass die Berliner Festspiele Formate aufgreifen und reproduzieren müssen, die es in Berlin schon gibt – wie die Autor*innentheatertage am DT oder das F.I.N.D.-Festival für internationale Dramatik an der Schaubühne. Wir suchen eher nach dem, was wir in Berlin noch hinzufügen können.

Möglicherweise hat sich der Berliner Stückemarkt durch die Ausweitung der Formate ins Performative und durch die Internationalisierung am Ende selbst der Relevanz beraubt. Wäre auch eine Re-Fokussierung auf den deutschsprachigen Raum denkbar gewesen?

Matthias Pees: Schon bevor ich zu den Berliner Festspielen kam, gab es im Theatertreffen-Team eine stetige Auseinandersetzung mit der Frage, was heute ein Stückemarkt sein könnte, wie er werden müsste oder wieder werden könnte. Aber wenn wir zurückkehren zu dem, was den Stückemarkt einmal ausgemacht hat, landen wir wieder bei einer Abfolge szenischer Lesungen. Das finde ich nicht mehr zeitgemäß.

So aber ist es in Heidelberg: Die Stücke des Wettbewerbs werden in szenischen Lesungen vorgestellt.

Matthias Pees: Und beim Theatertreffen, wo es im Kern um die Präsentation bemerkenswerter Inszenierungen geht, macht auf die Bühne gebrachte, oft großformatig inszenierte neue Dramatik mittlerweile einen erheblichen Anteil des Programms aus. Daneben erscheint mir das Format der szenischen Lesung von Dramentexten problematisch, einfach zu klein.

Bei Ihnen, Holger Schulze, ist genau dieses Sonderformat der Markenkern des Festivals.

Holger Schultze: Wir haben beides: Viele inszenierte Stücke – Gastspiele, den Nachspielpreis, wir arbeiten mit dem Deutschen Theater Berlin zusammen – und wir haben die Autor:innen-Lesungen. Gerade die Vielfalt ist so unendlich wichtig in der Autor:innen-Förderung. Es geht nicht nur darum, Stücke, die sich durchgesetzt haben und an den Münchner Kammerspielen inszeniert werden, zu zeigen. Wenn wir in die Fläche schauen, haben viele neue Stücke immer noch das Problem, dass sie nur einmal aufgeführt werden, dass sie nur im Studio aufgeführt werden, dass sie vor wenig Publikum aufgeführt werden. Auch wir zeigen bereits etablierte Stücke, aber zusätzlich stellen wir Stücke in Lesungen vor, veranstalten Diskussionen. Und von wegen trocken: Ich kann nur sagen, die Lesungen sind sehr begehrt und sehr voll. Vom Publikum her scheint es ein großes Interesse zu geben.

Matthias Pees: Aber das ist der Fokus des Festivals in Heidelberg, der Fokus des Theatertreffens ist es nicht und war es auch nie. Ich finde auch gut und richtig, dass wir nicht alle den gleichen Fokus haben.

Holger Schultze: Dennoch glaube nach wie vor, dass wir Foren für unsere Gegenwartsautor:innen brauchen, weil wir, auch im Rahmen der Theaterstreichungs-Debatten, sehr aufpassen müssen, dass das Theater nicht immer mainstreamiger wird. Wir müssen uns im Gegenteil genau mit diesen interessanten, auch sperrigen, spannenden Stücken, die unsere Gegenwart beschreiben, auseinandersetzen.

Matthias Pees: Da würde ich nicht widersprechen. Stücktexte sind wieder relevanter geworden im Theater, überhaupt textliches Material als entscheidende Grundlage für inhaltliche Auseinandersetzungen und intellektuelle Fallhöhe, die nicht so einfach entsteht, wenn ein Projekt ohne Textgrundlage erarbeitet wird.

Holger Schultze: Ich bin aber nicht so optimistisch wie Sie, Herr Pees. Es gibt zwar ganz viele Hausautor:innen, es gibt den Versuch zu fördern. Ich glaube aber nach wie vor, dass es nicht genug ist. Das richtet sich jetzt nicht gegen andere Produktionsweisen, gegen Teams, gegen Performances, aber ich glaube schon, dass die Autor:innen das Rückgrat des Theaters sind. Auch beim Publikum erlebe ich eine riesige Sehnsucht nach Stücken, nach der erzählten Geschichte, was immer das dann heißen mag, aber auch nach Themen. In dem Moment, wo wir zeitgenössische Stücke spielen, die politische, gesellschaftliche Themen der Gegenwart behandeln, kommt das Publikum.

„Textliches Material“ könnte aber auch eine Romanbearbeitung sein, die ein:e fest angestellte Dramaturg:in anfertigt. Dramatiker:innen hingegen sind in der Regel Freelancer und somit ökonomisch oftmals in einer prekären Situation.

Holger Schultze: Natürlich kämpfen die Autor:innen ums Überleben! Wir merken es auch beim Stückemarkt: Dieses Jahr hat es etwas weniger Einsendungen gegeben. Ich weiß von Autor*innen, die aufhören, weil es sich nicht rechnet. Jede Fördermöglichkeit ist notwendig!

Fazit?

Holger Schultze: Fazit ist doch klar. Nach diesem Gespräch wird Matthias Pees noch einmal in sich gehen und noch mehr zeitgenössisches Theater fördern – was er ja auch schon tut. Und wir werden überlegen, wie wir den Stückmarkt in Heidelberg weiter ausbauen.

Matthias Pees: Wir haben mit dem Theatertreffen ein Festival, das neue Stücke und neue Dramatik mittlerweile hervorgehoben sichtbar macht – im Hauptprogramm. In welchem Umfang, mit welchen Tendenzen, welchen Vorlieben oder Abneigungen, das entscheidet eine Jury aus sieben Kritiker:innen auf der Grundlage eines extrem breitflächigen, detaillierten Sichtungsprozesses in sehr vielen Städten im deutschsprachigen Raum. Das ist der Kern des Theatertreffens. Die Leiterinnen des Theatertreffens haben darüber hinaus mit den „10 Treffen“ einen neuen Rahmen für das Theatertreffen entworfen, der nicht mehr auf einen Nebenwettbewerb, sondern auf flexible Begegnungs- und Plattformformate setzt. Dabei soll in Zukunft auch die Einbindung zeitgenössischer Autor:innen und die künstlerische Auseinandersetzung mit ihren Werken und Schreibweisen eine wichtige, neue Rolle spielen. Wir sind da auf einer produktiven Suche – übrigens gemeinsam mit Dramatiker*innen und Autor*innen-Verbänden.

Holger Schultze: Respekt für dieses Timing, lieber Herr Pees, da haben Sie sich ja das Beste für den Schluss aufgehoben, das war mir und vielleicht auch der Öffentlichkeit noch gar nicht bekannt. Dass Sie das jetzt noch mal so ausdrücklich erwähnen, zeigt ja deutlich, dass Sie und ihr Team auch die Notwendigkeit der Unterstützung und der Förderung der zeitgenössischen Autor:innen und deren Verbände sehen. Diese Initiative ist nur zu begrüßen und ich bin gespannt, was uns in Berlin erwartet.

 

Das Gespräch führten Dorte Lena Eilers und Esther Slevogt.

 

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Matthias Pees (*1970 in Georgsmarienhütte) ist seit 2022 Intendant der Berliner Festspiele. Zuvor hat er als Intendant und Geschäftsführer des internationalen Produktionshauses Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt am Main (2013–2022), Leitender Dramaturg der Wiener Festwochen (2010–2013), Gründer und Ko-Geschäftsführer des internationalen Produktionsbüros prod.art.br in São Paulo (2004–2010), Programmdramaturg der Ruhrfestspiele Recklinghausen (2003–2004), Theaterdramaturg am schauspielhannover (2000–2003) und an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (1995–2000) sowie zuvor als Kulturjournalist und Theaterkritiker Erfahrungen in verschiedenen Bereichen und auf mehreren Seiten der darstellenden Künste gesammelt. In Frankfurt und der Rhein-Main-Region initiierte oder mitgestaltete er große interdisziplinäre Festivals und Kooperationsprojekte u. a. mit dem Ensemble Modern, dem Jüdischen Museum Frankfurt, dem Hessischen Staatsballett oder zuletzt mit dem Schauspiel Frankfurt, dem Museum Angewandte Kunst und der Frankfurter freien Szene für die Ausrichtung der Festivals "Politik im freien Theater" der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb und "Theater der Welt" des Internationalen Theaterinstituts (ITI).

Holger Schultze (*1961 in Berlin) ist seit der Spielzeit 2011/12 Intendant am Theater und Orchester Heidelberg. Zu seinen Aufgaben gehört auch die Leitung des Heidelberger Stückemarkts, der Heidelberger Schlossfestspiele und des Winter in Schwetzingen. Unter seiner Intendanz erhielt das Theater und Orchester Heidelberg zahlreiche Nominierungen für den Theaterpreis DER FAUST sowie etliche Nennungen in den Kritikerumfragen großer Fachzeitschriften und eine Einladung zu den Mülheimer Theatertagen. Ein Schwerpunkt sind internationale Theaterprojekte, wie zuletzt das iberoamerikanische Theaterfestival "¡Adelante!", das erstmalig 2017 am Theater und Orchester Heidelberg stattfand. Eine zweite Ausgabe folgte 2020 und für die Spielzeit 2023/24 ist die dritte Ausgabe des Iberoamerikanischen Theaterfestivals geplant. Darüber hinaus setzte er sich für die Förderung von Autor:innen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie ein und hat für die Spielzeit 2022/2023 erstmalig das Autor:innenfestival REMMIDEMMI mit Themen zum Widerstand ins Leben gerufen. Holger Schultze war Mitglied im Vorstand der Intendantengruppe sowie von 2011 bis 2022 Vorsitzender des Künstlerischen Ausschusses im Deutschen Bühnenverein. Seit 2015 ist er Mitglied im Vorstand des Internationalen Theaterinstituts (ITI), Zentrum Bundesrepublik Deutschland und seit Juni 2021 gewählter Vizepräsident gemeinsam mit Tobias Veit.

 

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