Weil Form kostet

März 2023. Vor knapp einem Jahr starb Hans-Thies Lehmann, der Theoretiker der Postdramatik, wie Lehmann das Theater nach dem Drama nannte, das nicht mehr notwendigerweise auf einen Stücktext gegründet ist. Aktuell ist eine Renaissance des Stücktextes zu beobachten. Trotzdem führt kein Weg mehr zurück hinter die Positionen der Postdramatik.

Von Björn SC Deigner

Mein Studium am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen lag nach der Dienstzeit seines ursprünglichen Leiters Andrzej Wirth, der das Postdramatische maßgeblich mitgeprägt hatte. Trotzdem war das Buch "Postdramatisches Theater" seines einstigen Mitarbeiters Hans-Thies Lehmann das Brevier der hessischen Stadttheater-Guerillas. Mit seinem Anspruch, eine breite Fülle der Aspekte eines Theaters "nach dem Drama" zu beleuchten, war es eine Fibel für uns Studierende, die uns begleitete. Knapp fünfundzwanzig Jahre ist es her, dass das Buch veröffentlicht wurde, sein Verfasser ist vor fast einem Jahr verstorben. Es bleiben Lehmanns scharfsinnige Beobachtungen und auch die Frage, was ein Postdramatisches Theater für uns heute bereithalten kann.

Für das Publikum finden sich postdramatische Elemente auf den unterschiedlichsten Bühnen. Man muss nicht erst zum Berliner Theatertreffen fahren, um zum Beispiel die marschierenden Körper eines Ulrich Rasche zu sehen. Auch auf kleineren Landesbühnen finden sich chorische Prinzipien und inszenatorische Zugriffe abseits figurenpsychologischer Prägung. Performative Formen, die vor wenigen Jahrzehnten der freien Szene vorbehalten waren, spielen längst auf Stadttheaterbühnen.

Und auch in Spielstätten abseits großer Metropolen treffen Textflächen auf schauspielende Körper. Dass es dabei eine amalgamierende Nähe zwischen Autorschaft und Regie gibt, ist unbestreitbar: Oft schreiben sich in Personalunion ästhetische Prinzipien zwischen Text und Bühne fort (beispielsweise bei René Pollesch). Text darf dann kantiger Monolith sein, wenn er schon im Produzieren als Grundlage einer "markanten Handschrift" dient: Wir leben noch immer in Zeiten des Regietheaters. Und so sind dies alles Spielformen, die mit Elementen des Postdramatischen umgehen. Jedoch geht Hans-Thies Lehmanns Begriff eines "Postdramatischen Theaters" weit darüber hinaus.

Für ein Theater der Krise

Denn was in der oben beschriebenen Form verlorengeht, ist eine "Poetik der Störung", wie Lehmann es nennt. Eine Form von Text etwa, die die Bilderproduktion herausfordert oder gar unterläuft. Theatertexte, die von Regien entworfen werden, bleiben oft an die eigene Inszenierung gebunden: Sie sind eher Material, als dass sie selbst Objekt wären. Sie stellen die Fragen weit leiser, die durch getrennte Autorschaft entstehen. Man denke an die rätselhaften Arbeiten, die zwischen Heiner Müller und Robert Wilson entstanden, zum Beispiel das monumentale "the CIVIL warS".

Für Lehmann soll der Text dem Theater zum Fremdkörper werden und sogar mehr noch, im besten Falle wiederum in der Autorschaft selbst unzähmbar: eine nicht vollends zu regierende Entität, die ihr Eigenleben gegenüber jeglicher Lesart behauptet. Text wird zu einem Objekt, das nicht nur angeschaut bzw. gelesen wird, sondern zurückschaut (und uns unsere Lesart vorhält). Lehmann plädiert für ein Theater der Krise: Es ist eben kein Betrieb des schnell Handhabbaren, keine Produktion in Reibungslosigkeit. Er widerspricht damit auch dem Prozess des widerstandslosen Durchgleitens in einer vierwöchigen Probenphase, in der Krisen schon rein zeitlich gar nicht mehr möglich sind. Man bemerkt: Postdramatisches greift an die grundlegende Struktur des Theaterbetriebs.

Frage nach dem Umgang mit den Mitteln

Denn der fatalste Fehler wäre, zu glauben, ein postdramatisches Theater sei ein Theater ohne Form. Sei ein Theater, in welchem Autorschaften Worte nutzen, um uns ihre Meinungen zu geigen, überdeutliche Phrasen zu dreschen oder in der eigenen willkürlichen Poetik zu versumpfen. Sei ein Theater, in dem der Text nichts mehr gälte, weil die Bühne zur multimedialen Veranstaltung verkommen wäre. Sei ein Theater des blutleeren Deklamierens, weil ohne Figuren auch nur noch mit verdorrtem dramatischem Potential gesegnet. Postdramatisch jedoch bedeutet nicht ein Theater ohne Konflikt. Bedeutetet nicht sprachliche Willkür und auch keine Kunst, die lediglich mit sich selbst beschäftigt ist. Vielmehr ist das Kostbare am postdramatischen Theater, dass es konventionellen (also unbefragt gesetzten und ausgeführten) Elementen widerspricht und die Frage nach dem Umgang mit den Mitteln des Theaters aufreißt und laut nach Antwort ruft: Form kostet – und das auf mehreren Ebenen.

Form kostet die Schaffenden Konsequenz und Haltung. Denn die Entscheidung zu einer Form (und mag sie noch so zynisch sein) entspringt einem Standpunkt. Form ist deshalb nie beiläufig, sie ist – konsequent ausgeführt – nicht Schmuck, sondern das Gegenteil. Sie ist Zentrum eines Textes und politisch durch und durch. Denn die gesuchte Form erzählt implizit mehr über unseren Zugang zu Welt und deren Rezeption als jede direkte Figurenrede.

Form kostet auch das Publikum. Sie fordert Lesart bei den Zuschauenden. Sie fordert heraus, liegt im Clinch mit stillschweigenden Verabredungen der restlichen Kartierung unseres Lebens. (Vom "formatierten Sprechen" der Medien, so Guy Debord, bis zu unbewussten Alltagslogiken). Form bedeutet, nicht einverstanden zu sein mit der Welt, wie sie ist, und eine andere Schwerkraft, eine andere Ästhetik zu denken.

Form kostet auch wechselseitig: Sie verkostet uns, nimmt uns in Schlückchen. Probiert uns Schaffende, wie die Rezipierenden auch, in Happen. Man will mit Artauds "Theater der Grausamkeit" darauf verweisen, dass die Form an unseren Organen rührt. Sie ist wählerisch, launisch und bleibt ungern.

Und sie kostet ganz realiter: So lange Theaterbetriebe in dieselben wirtschaftlichen Abhängigkeiten gesetzt werden wie Unternehmungen des freien Marktes, wird das künstlerische Arbeiten, das sich als Forschung und Experiment begreift, spitzfingrig angefasst werden. Wer sich an Auslastungszahlen messen lassen muss, hat wenig Ohr für Konzepte, die das Wahrnehmen des Publikums auf fragile Füße setzt.

Ritualhaftes Agieren

Es ist die große Misere des Theaters, dass wir nicht wissen, was sein Wesen ist. Hat das Theater überhaupt eine Moral oder ist es ein Abgrund der Organe? Nicht umsonst ist Büchners "Woyzeck" ein Stoff, der die Bühnen immer wieder umtreibt und dabei aufreibt. In seiner makellosen Unvollständigkeit spiegelt dieser Text das Theater: Es lebt in seinen Fehlstellen und durch sie hindurch. "Ein schnelles Gewitter, das mit der Geschwindigkeit einer anderen Zeit kommt", nennt Müller Büchners Bruchstück und benennt damit vielleicht die Unwucht, die Theater bedeuten kann. "Theater ist Ausnahme", so Lehmann kurz.

Für Schreibende wird das chorische Prinzip durch das Postdramatische Theater wieder wachgeküsst, nachdem es im bürgerlichen Theater nur leise Fortsätze zeitigte. Damit ist nicht unbedingt das gemeinsam anatmende Sprechen einer Gruppe auf der Bühne gemeint. Vielmehr ist es ein Veräußern abseits der konventionellen Figurenlogik, ein überzeitliches Sprechen. Ein Sprechen außerhalb des Körpers. Die Spielarten sind bekannt: Schleefs chorische Sprechkörper, Marthalers verausgabte Europäer im Altersheim bis hin zu Claudia Bauers jandelnden Biomechanikern. Mal mehr – mal weniger, aber doch alle gemeinsam, zeigen sie in eine andere Richtung des Theaters. Eine Richtung, in der die Bühne weitaus näher am Zeremoniell der Kirche als an Netflix oder Amazon Prime liegt. Lehmann spricht von einer "magischen Übertragung und Verbindung mittels Sprache". Im Mittelpunkt steht dann nicht mehr ein plot oder das Schicksal einer souveränen Heldenfigur, die sich gegen die Welt stellt. Sondern das ritualhafte Miteinandersein zwischen Bühne und seinen Zuschauenden. Das ereignishafte Geschehen in einem Raum, das nicht wiederholbar ist, das eher luzide traumhaft agiert, statt wissenschaftlich zu exegieren.

Warum also ein Theater "nach dem Drama", das seine Mittel neu beschaut, seine (Text)Formen erst oder wieder finden muss? Im Postdramatischen Theater wird das Theater als gesamter Raum zum Ort des Sprechens: So, wie Politik (laut Jacques Derrida) im Idealfall zum Raum wird, in dem den Ungehörten Gehör verschafft wird. An einer Stelle in "Masken-Garderobe" beschreibt Walter Benjamin, dass sie alle "fliehend" auftreten – der Hofstaat, die Narren, Herolde oder Adelskinder. Sie sind zuerst auf der Flucht und kommen auf die Szene, um innezuhalten. Das westliche Theater ist in seinen Ursprüngen ein Theater der Schutzsuchenden, der Fliehenden, der Asylsuchenden. Jener ungeordneten Stimmen also, die sich Gehör verschaffen müssen und deren Sprechen selbst zunächst unsortiert ist. Auch hier kostet die Form.

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Björn SC Deigner studierte am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Er arbeitet als Dramatiker, Hörspielmacher und komponiert für Hörspiele und das Theater. Deigners Theatertexte werden an verschiedenen deutschen Theatern aufgeführt, u.a. am Staatstheater Saarbrücken, dem Staatstheater Braunschweig, dem Schauspiel Bonn oder dem ETA Hoffmann-Theater Bamberg. Für seine Arbeit als Dramatiker wurde Deigner 2018 zu den Autorentheatertagen am Deutschen Theater Berlin eingeladen, sowie 2019 zum Heidelberger Stückemarkt. Inszenierungen seiner Theatertexte waren 2020 und 2021 ebenfalls zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen.

 

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