More, More, More

Von allem zuviel, dabei aber atemberaubend schön: Lies Pauwels hat mit "Baroque" eine Vergegenwärtigung barocker Überflussästhetik inszeniert. 

Von Falk Schreiber

30. April 2023. Die barocke Ästhetik des 17. Jahrhunderts ist eine Ästhetik der Fülle. Man kennt die Stillleben von Pieter und Willem Claesz mit ihren überbordenden Tafeln, man kennt die Arabesken in der Architektur, man kennt die Chöre und den Streicherschmelz in den Kompositionen von Vivaldi, Monteverdi, Bach. Aber das Barock war auch das Wissen um die Vergänglichkeit dieser Fülle. In den Stillleben zerfällt das Obst, sind die Speisen von Schimmel überzogen, von Würmern und Insekten befallen. Und wie man im Barock diese Freude am Überfluss und das Memento Mori zusammendenken konnte, das macht bis heute den Reiz dieser Epoche aus.

Das Schauspielhaus Bochum ist mit einer Vergegenwärtigung dieser Zeit zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen: Lies Pauwels hat "Baroque" weniger als Stück im engeren Sinne inszeniert, mehr als eine Art lebendes Bild. Tanz, Musik, Choreografie erzeugen eine Stimmung barocken Überflusses, freilich ohne Handlung, ohne dramaturgischen Spannungsbogen. Stattdessen: gibt es ein stetiges An- und Abschwellen von Aktionen (und Lautstärke). Ein Lied, ein Schrei, ein Exzess, dann folgt das Absinken ins Dämmern, bis die nächste Szene sich aufbaut.

Empathie? Viktimisierung? Diskriminierung?

Yoko Ono singt "I love all of me", "I'm a shy girl, my mother cals me a fat chest / I'm a heavy guy, my father calls me a fat head", und die Darsteller:innen präsentieren sich dazu auf einem Sockel mit der Aufschrift "Homo": der schmale William Cooper, die füllige Jasmin Schafrina, die dunkelhäutige Mercy Dorcas Otieno, die Asiatin Jing Xiang, immer so weiter, den gesamten Song lang, eine Abfolge diverser Körpermodelle. Im Grunde ist das eine Catwalk-Dramaturgie, die an dem Abend immer wieder auftauchen wird. Man kann diese Darstellung unterschiedlicher Körper als "Mein Name ist Mensch"-Kitsch abtun, aber Vorsicht: Die Aufschrift auf dem Sockel bleibt nicht "Homo", nach einer Weile wird die Schrift erst zu "Homo monstrosus" und dann zu "Homo melancholicus" erweitert, und das ist schon nicht mehr ganz so harmonisch. Zumal auch die gertenschlanke Ann Göbel zwischen den etwas weniger schlanken Darsteller:innen umhergeht und sie zu Beginn fragt, ob sie sich wohl in ihrer Haut fühlten, dann, ob sie Hilfe bräuchten, schließlich, ob sie etwa von einem Elefant oder einem Wal abstammen würden.

Baroque4 Ann Gbel Mercy Dorcas Otieno Jasmin Schafrina v li Fred Debrock uNature Mort mit Lebenden: Ann Gbel, Mercy Dorcas Otieno, Jasmin Schafrina © Fred Debrock

Der Schritt von der Empathie über die Viktimisierung bis zur Diskriminierung ist nicht weit, und es ist sympathisch, dass Kathrin Brüggemann und Eva-Maria Diers in der nächsten Szene eine lautstarke Selbstermächtigungssuada ins Publikum brüllen. Passend dazu ist im Programmheft das "Fat Liberation Manifesto" von Judy Freespirit und Aldebaran abgedruckt: "Dicke Menschen auf der Welt, vereinigt euch! Ihr habt nichts zu verlieren ..." In seinem schonungslosen Benennen (und auch in seiner Reproduktion) von Diskriminierung ist dieser Abend schmerzhaft, aber er weiß am Ende immer, auf wessen Seite er steht.

Pop, Barock, Popbarock

Und so geht es weiter. "Baroque" verhandelt Körperlichkeit, Sexualität, Genuss, Las Vegas wird als barocker Sehnsuchtsort aufgerufen (und etwas später verdammt), Frauenkörper beschreiben sich als "mehrgewichtig", "kräftig", schließlich als "barock", zwischendrin schlägt die Melancholie voll durch, und tote Papageien stürzen aus dem Schnürboden auf die Bühne. Es ist von allem zuviel, es ist ein Fest, es ist eine Überforderung, die nach einer Weile auch gehörig nerven kann. Aber "Baroque" ist eben auch Welttheater im besten Sinne, divers, glücklich, unerträglich. Von allem zuviel, und dabei atemberaubend schön, so schön wie Johanna Trudzinskis Bühnengemälde, das zunächst an ein seltsames Steampunk-Artefakt erinnert und sich dann als barockes Stillleben entpuppt, mit Wasserkelch, Obst und reich verzierter Karaffe, hinter der sich der Abgrund versteckt.

Ein Abgrund, den Pauwels Inszenierung immer mitdenkt. Nach knapp zwei Stunden, man ist längst ermattet von diesem Overkill an Eindrücken, beschreibt Jing Xiang, dass ihr schlecht werde, wenn sie immer wieder "More, More, More" deklamiert. Und dann kotzt sie, angesichts von zuviel Theater, zuviel Fastfood, zuviel Twitter (und wie die englischen Übertitel hier mit den Logos des Zuviel spielen, das ist gleich noch ein weiteres Zuviel dieses an Überfluss reichen Abends).

Kurz vor Schluss erklingt eine eigenartige Autotune-Version von Skeeter Davis' "The End of the World", "Why does the sun keep on shining / Why does the sea rush to the shore? / Don't they know that it's the end of the world / 'Cause you don't love me any more." Es geht zu Ende, mit Pop, mit Barock. Popbarock.

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Baroque
von Lies Pauwels 
Konzept, Text, Regie: Lies Pauwels, Bühne und Kostüme: Johanna Trudzinski, Lichtdesign: Wolfgang Macher, Dramaturgie: Felicitas Arnold, Vasco Boenisch 
Mit: Mourad Baaiz, Kathrin Brüggemann, William Cooper, Eva-Maria Diers, Ann Göbel, Karolin Jörig, Mercy Dorcas Otieno, Jasmin Schafrina, Jing Xiang
Premiere am 14. Mai 2022 
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause 

www.schauspielhausbochum.de

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