Penetrationen

Kolonialismus, Industrialisierung, Gendertrouble: Kevin Rittbergers "Wir sind nach dem Sturm" dreht die ganz großen Räder. Marie Bues’ Uraufführung am Schauspiel Hannover aber führt die verschiedenen Erzählstränge geschickt zusammen.

Von Falk Schreiber

2. Mai 2023. 1834 erfand der hannoversche Oberbergrat Wilhelm August Julius Albert das Drahtseil, was dem Bergbau im Harz einen entscheidenden Innovationsschub verschaffte und so die abgelegene Gebirgsregion in ein Industriegebiet verwandelte. In Kevin Rittbergers "Wir sind nach dem Sturm" dichtet eine angehende Psychotherapeutin dem 1846 verstorbenen Albert ein desolates Liebesleben an und entwickelt in ihrer Abschlussprüfung hierfür eine Psychoanalyse. Ihre Professorin ist zwar angesichts des unkonventionellen Ansatzes irritiert, winkt die Studentin aber dennoch mit Bestnoten durch. Woraufhin diese einen ersten Klienten therapiert, einen altlinken Aktivisten, der plant, in Bad Lauterberg (im Harz!) die Statue des Kolonialverbrechers Hermann von Wissmann einzureißen – der Aktivist verarbeitet das lange zurückliegende Trauma eines sexuellen Übergriffs durch seine damalige Freundin.

Bohren in der deutschen Geschichte

Während die Lebensgefährtin der Professorin sich angesichts einer zunehmend apokalyptischen Umwelt zur Prepperin entwickelt und einen Bunker baut.
Bergbau als Penetration der tiefen Schichten der Erde und Ausbeutung fossiler Schätze, Kolonialismus als Ausbeutung fremder Gesellschaften, das europäische Kolonialreich als gewalthaltige Folge der Industrialisierung, sexuelle Gewalt – Rittberger dreht in "Wir sind nach dem Sturm" die ganz großen Räder, und dass neben den Figuren zwischen dem 19. Jahrhundert und der Gegenwart auch noch ein "Ich" als personifiziertes Naturganzes durch die Szenerie geistert, bis am Ende die Ahrtal-Flut 2021 das ganze Geschehen wegschwemmt, hilft nicht dabei, den Überblick zu behalten. Entsprechend muss Marie Bues als Uraufführungsregisseurin am Schauspiel Hannover vor allem die Handlungsstränge ordnen: Befinden wir uns nun gerade im Harz oder in der Psychotherapiepraxis? Und wer spricht? Immerhin übernehmen Alrun Hofert, Lukas Holzhausen, Irene Kugler, Birte Leest und Nicolas Matthews ein umfangreiches Figurentableau, Figuren, die nicht einmal klar voneinander abgegrenzt sind – Matthews spielt etwa einen jungen Aktivisten, der bei der Flut als Bufti beim Technischen Hilfswerk wieder auftaucht, eine neue Figur, aber gleichzeitig doch dieselbe.

Bues behilft sich, indem sie einerseits den Therapieansatz der Vorlage in den Mittelpunkt des Stücks stellt. Eine Tiefenbohrung in die Seele, das ist nicht so weit entfernt von dem, was der Bergmann so macht, und im Grunde ist auch die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus ein Bohren in der deutschen Geschichte (zumal die Aktivisten für den Anschlag auf die Statue ein Stahlseil verwenden wollen, was den inhaltlichen Anschluss an den Erzählstrang um Albert herstellt). Und andererseits nutzt sie die komödiantischen Elemente, die gerade der Psychiatrie-Bereich mit sich bringt – die Therapiegespräche zwischen Leest und Holzhausen sind kleine Kabinettstückchen des Boulevards, böse, kreativ, lustig.

nach dem sturm 115 KatrinribbeStürzen oder stehenlassen? Lukas Holzhausen und Nicholas Matthews diskutieren, links macht Johannes Frick Musik © Katrin Ribbe

Wären im Unterbewussten dieser Komödienhandlung nicht immer wieder Abgründe versteckt. Abgründe, die insbesondere in Moran Sanderovichs Kostümen an die Oberfläche drängen: Sanderovich hat die Darsteller:innen in Bodysuits gesteckt, die Nacktheit andeuten. Allerdings handelt es sich hier um eine gleichzeitig queere wie verletzte Nacktheit – alle Figuren haben jeweils eine weibliche Brust, das verweist einmal auf den Gendertrouble, der den Aktivisten verwirrt, der als cis Mann von einer Frau vergewaltigt wurde. Und dann verweist diese Nacktheit auf zerstörte Körper, auf Amputationen, auf Krankheit. Krankheit, die sich in Wunden manifestiert, die alle an ihren Oberkörpern tragen, Narben und Schorf. "Wir sind nach dem Sturm" ist lustig, aber zum Lachen ist hier nichts.

Anpassungsprobleme

Das Gastspiel beim Heidelberger Stückemarkt leidet freilich ein wenig unter der räumlichen Situation im Alten Saal des Heidelberger Theaters. Im (wesentlichen kleineren) Ballhaus Eins des Schauspielhauses Hannover gibt es einen steil ansteigenden Zuschauerraum, der fehlt hier. Das heißt, wenn die Darsteller:innen in Bodennähe auf Shahrzad Rahmanis Bühne agieren (und das machen sie in dieser Inszenierung häufig, als ob sie sich mit ihrem Spiel bergbaugleich ins Erdreich verkriechen würden), dann sieht man eigentlich nur aus der ersten Reihe und vom Rang etwas, der Rest des Publikums hört einen assoziationsreichen Text, ohne dass die Figuren ihm Halt geben könnten. Auffallend: dass der Text mit einem Schlag verständlich wird, sobald die Darsteller:innen sich erheben, beispielsweise in einem Dialog zwischen altem (Holzhausen) und jungem Aktivisten (Matthews), der zudem zeigt, wie gut Rittberger aktuelle Diskursverschiebungen zwischen Kolonialismuskritik und Postkolonialismus verstanden hat.

Und doch: Nach gut zwei Stunden ist man zwar erschlagen von der Informationsflut dieses Stücks, hat aber dank einer klugen Inszenierung dennoch einiges mitgenommen. Auch wenn man selbst ein wenig mitgenommen ist.

Wir sind nach dem Sturm
von Kevin Rittberger
Regie: Marie Bues, Bühne: Shahrzad Rahmani, Kostüme: Moran Sanderovich, Musik: Johannes Frick, Video: Camille Lacadee, Dramaturgie: Michael Letmathe.
Mit: Johannes Frick, Alrun Hofert, Lukas Holzhausen, Irene Kugler, Birte Leest, Nicolas Matthews.
Dauer: 2 Stunden 5 Minuten, keine Pause

staatstheater-hannover.de

Kein Recht zu kommentieren