Schwarzerde

Der Heidelberger Stückemarkt beginnt mit einer eindringlichen Lektion in Geschichte: Das Kölner Kollektiv FUTUR3 hat sich in "Die Revolution lässt ihr Kinder verhungern" mit einer der größten humanitären Katastrophe des 20. Jahrhunderts beschäftigt: dem Holodomor in der Ukraine.  

Von Dorte Lena Eilers

Heidelberg, 29. Mai 2023. Als der britische Journalist Gareth Jones während seiner dritten Russlandreise im März 1933 rund 70 Kilometer von Charkiw entfernt aus dem Zug stieg und die Grenze zur Ukraine überquerte, erstreckte sich vor ihm eine endlos weite Ebene, die sonderbar gespickt war mit schwarzen Punkten. Erst beim Näherkommen realisierte der Journalist, dass es sich um Krähen handelte. Die Tiere saßen dort, wo sonst Menschen arbeiteten, wo sonst Getreide wuchs, geerntet wurde, verarbeitet, verschickt. Und wo rund hundert Jahre später Bomben einschlugen.

Die Schwarzerde, auch Tschernosem genannt, ist die Schatzkammer der Ukraine. Garant für eine ertragreiche Getreideproduktion und beredtes Symbol an diesem Eröffnungsabend des Heidelberger Stückemarktes: ein Zeitspeicher, der Jahrzehnte ukrainischer Geschichte in sich birgt. Das freie Theaterkollektiv FUTUR3 hat sich in seinem Recherchestück "Die Revolution lässt ihre Kinder verhungern", das in Zusammenarbeit mit dem Schauspiel Köln und dem Orangerie Theater Köln entwickelt wurde, einem historisch dunklen Kapitel genähert: dem Holodomor.

Verschiedene Narrative

Mit diesem Begriff wird die große Hungerkatastrophe 1932/33 in der Sowjetunion bezeichnet, während derer, "drei bis sieben Millionen Menschen … starben, vor allem in den ukrainischen Dörfern". Die Frage, warum es dazu kam, war und ist ein Fall politischer Diskussionen und auch Manipulationen. 

Das sowjetische Narrativ, welches die heutige russische Regierung weitgehend teilt, nannte allgemeine Missernten als Gründe des Hungers, unter dem nicht nur Ukrainer, sondern auch Russen, Kasachen und andere Ethnien gelitten hätten. Die Ukraine hingegen – zahlreiche Wissenschaftler teilen diese These – sieht einzig Josef Stalin als Täter. Holodomor heißt "Tötung durch Hunger". Die Devise aus Moskau sah vor, die Normen der sozialistischen Planwirtschaft in der Ukraine besonders hart zu verfolgen. Bauern, die sich der sozialistischen Zwangskollektivierung widersetzten, sollten mit unerfüllbar hohen Ablieferungssolls belastet werden.

2023 DieRevolutionlaesst AnnaLukendaHistorische Berichte und Zeugenaussagen © Anna Lukenda

Erreichten die Bauern ihr Soll nicht, beschlagnahmten Regierungsschergen ihr gesamtes Getreide. "Für Stalin", schreibt der Slawist Gerhard Simon, "war der Holodomor nicht nur ein Instrument, um die Bauern zu disziplinieren, sondern auch um in der Ukraine alle Träume von Autonomie oder gar Selbständigkeit ein für alle Mal zu zerstören." Ein Vorgehen also mit System, welches im aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine, so legt es der Abend nah, seine Fortsetzung erfahre.

Spieler*innen und Gegenspieler*innen

Klick. Sobald auf einer Bühne als erstes eine Schreibtischlampe angeht, weiß man, dass jetzt ein Dokumentartheaterstück folgt. Stalin, Sowjetunion, Planwirtschaft, internationale Politik und Presse – FUTUR3, bestehend aus André Erlen und Stefan H. Kraft, wollen an diesem Abend viel verhandeln. Ihr Material: Historische Berichte, Tagebucheintragungen, Briefe, Zeitungsartikel, diplomatische Depeschen. Ihr Setting: Ein mit grauen Filzbahnen verhangener Raum, der den sandigen Geschmack des Hungers heraufbeschwört. Auf den Filzbahnen werden zudem Bilder und Filme projiziert, die Kostüme zitieren dezent Trachten aus der Ukraine (Bühne und Kostüme Michaela Muchina).  

Während die acht Spielerinnen und Spieler, drei davon stammen aus der Ukraine, anhand von Zeugenaussagen die Genese der großen Hungersnot nachzeichnen, Gegenspieler ins Feld führen wie junge Kommunisten, die mit glühenden Parolen – "Der Kampf ums Getreide ist ein Kampf um den Sozialismus" – ihr Gewissen übertünchen, werden immer wieder auch internationale Interessenslagen thematisiert. Ein weiterer Grund für die Hungersnot war nämlich auch die hohe Exportrate an Getreide, was ernüchternd mit der heutigen Situation in der Ukraine korrespondiert, in der Krieg herrscht, doch Hauptsache, der Getreidehandel floriert. "Ihr könnt Euch", schreibt eine Zeitzeugin des Holodomor, "die hiesige Not nicht vorstellen, dafür habt denn wohl ihr ein gutes Leben, denn unsere Produkte kommen doch alle spottbillig über die Grenze."

2023 DieRevolutionlaesst1 Koeln AnnaLukendaSie versuchten, zu überleben ... © Anna Lukenda

Neben wirtschaftlichen Verbindungen waren es oftmals auch ideologische Gründe, die selbst Intellektuelle blind machten. Als der britische Journalist Gareth Jones am 29. März 1933 in Berlin vor die Presse trat und die ganze entsetzliche Lage in der Ukraine schilderte, löste er nicht nur Bestürzung aus, sondern auch Wut. Stalin-Verehrer wie der Journalist und Pulitzerpreisträger Walter Duranty oder Literaturnobelpreisträger George Bernhard Shaw bezichtigten Jones der Lüge. 

Erzählung, die Ambivalenzen zuläßt

"Die Revolution lässt ihre Kinder verhungern" ist, auch dank der Soundebene aus mehrstimmig gesungenen ukrainischen Liedern, ein gut komponierter Dokumentartheaterabend. Fast, könnte man sagen, ein wenig zu gut komponiert, denn Geschichte und auch Gegenwart sind komplex. Ohne papieren zu wirken, verweben FUTUR3 Fakten, Recherchen, Dokumente und Filme zu einer Erzählung, die Ambivalenzen zulässt – indes auch einiges auslässt, wie etwa die aktuelle Position der USA. Deren Agrarfirmen, so äußerte es 2015 der Strategiedirektor des Oakland Instituts, eines auf Nahrungssicherheit spezialisierten Think Tanks, Frédéric Mousseau gegenüber der Zeit, hätten derart viel in der Ukraine investiert, dass es einer "Übernahme der ukrainischen Landwirtschaft durch westliche Konzerne" gleichkomme.

Das Anliegen des Stücks indes ist nicht der Ost-West-Konflikt. Es will vorrangig den Holodomor, der Teil der Erinnerungskultur und damit auch Teil der Nationenbildung der Ukraine ist, auch hierzulande wieder ins Gedächtnis rufen. Bereits 2003 hatte sich die Ukraine dafür eingesetzt, dass der Holodomor international als Genozid anerkannt wird. Am 15. Dezember 2022 stufte ihn das EU-Parlament als Völkermord ein.

Als letztes Video sehen wir den Landwirt Oleksandr über seine Felder gehen, vorbei an zerstörten Lagerhallen und Bombenkratern. Anfangs meint man noch, das Grummeln im Ton sei der Wind, bis offenbar ganz in der Nähe eine Rakete einschlägt. Oleksandr hatte gerade, bevor alle in den Bunker flüchten, vom Holodomor erzählt. Sein letzter Satz: "Sie versuchten zu überleben …"

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Die Revolution lässt ihre Kinder verhungern 
von Futur 3
in Zusammenarbeit mit dem Schauspiel Köln und dem Orangerie Theater Köln 
Künstlerische Leitung André Erlen, Stefan H. Kraft  Regie André Erlen  Bühne und Kostüme Michaela Muchina  Licht Jürgen Kapitein Videodesign, Live-Kamera Valerij Lisac  Übertitel Andrew Clarke (PANTHEA)  Filmteam Ukraine Alina Gorlova (Video-Regie), Yarema Malashchuk, Khrystyna Lyzogub (Kamera); Volodymyr Cheppel (Drohne, Kamera, Fahrer), Pavlo Jurov (Leitung) 
Live-Musik Mariana Sadovska, Jörg Ritzenhoff, Yasia Sayenko Produktionsleitung Theresa Heußen Dramaturgie Lea Goebel  Künstlerische Mitarbeit Pavlo Yurov Dramaturgieassistenz Gemma Mathilda Heiden Regieassistenz Regina Bensch, Patricia Stövesand
Mit Oleksii Dorychevskyi, Stefko Hanushevsky, Anja Jazeschann, Stefan H. Kraft, Valerij Lisac, Jörg Ritzenhoff, Mariana Sadovska, Yasia Sayenko
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten 

www.futur-drei.de
schauspiel-koeln.de

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