Gastland Schweden – Interview mit Kuratorin Ulricha Johnson
Subversiv politisch
6. Mai 2023. Schweden hat politisch derzeit viel zu verhandeln: den von der Türkei blockierten NATO-Beitritt etwa oder den Rechtsruck bei den letzten Wahlen. Wie wirkt sich diese Situation auf das Theater aus? Ein Gespräch mit der Gastland-Kuratorin Ulricha Johnson über Redefreiheit, Karikaturenstreits und die Frage, warum die Theaterwelt gerade niemandem mehr traut.
Ulricha Johnson, viele Theatermacher:innen in Deutschland haben in den vergangenen Jahren durchaus mit Sehnsucht nach Schweden geblickt. Während bei uns die Theater in Zeiten der Corona-Pandemie lange Schließzeiten verkraften mussten, lief in Schweden das öffentliche Leben weitgehend weiter. Wie würden Sie den Status Quo der schwedischen Theaterszene nach der Pandemie beschreiben?
Ulricha Johnson: Wir hatten tatsächlich das Glück, dass es keine kompletten Schließungen gab. Die Leute haben weitergearbeitet, egal mit welchen Einschränkungen wir konfrontiert wurden. Dennoch habe ich erlebt, wie Freunde und Kolleg:innen gelitten haben. Im vergangenen Jahr erhielten wir Mittel für ein Projekt, das Strategien zur Selbstfürsorge für Menschen in unseren Sektoren entwickeln soll. Es beinhaltet Untersuchungen zum psychischen Zustand von Menschen, die in künstlerischen Berufen arbeiten. Die Ergebnisse sollen im Juni auf der Biennale der Darstellenden Künste in Stockholm vorgestellt werden.
Viele haben sich anderen Berufen zugewandt, sodass es den Bühnen derzeit massiv beispielsweise an Technikern fehlt. Zudem sind die Spielpläne voll mit Produktionen, die während der Pandemie darauf gewartet haben, herauszukommen. Deshalb ist es für neue Projekte und Produktionen jetzt schwer, überhaupt in den Spielplänen Berücksichtigung zu finden, was frei arbeitende Künstler:innen extrem beeinträchtigt.
Schweden war in den vergangenen Monaten auch aus einem anderen Grund bei uns in den Medien: Das Land hat sich infolge des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine um die NATO-Mitgliedschaft beworben. Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt gab es einen Karikaturenstreit in Schweden. Die Zeitschrift "Flamman" zeichnete im Rahmen eines Wettbewerbs eine Karikatur aus, die einen alten Mann zeigt, der einem kurdischen Kämpfer den Kopf abbeißt. Das NATO-Mitglied Türkei blockiert die Mitgliedschaft Schwedens sowieso, protestierte aber auch gegen diese Karikatur. Bildhafte Sprache und Satire sind klassische Mittel des Theaters. Werden solche Konflikte auch auf schwedischen Bühnen verhandelt?
Ulricha Johnson: Wir haben in Schweden einen sehr starken Schutzinstinkt, was die Redefreiheit angeht. Wir sind sehr säkularisiert, das gilt sowohl für die hier lebenden Christen als auch für die Muslime. Natürlich gibt es eine Debatte darüber, ob es angemessen ist, religiöse Empfindungen zu provozieren, nur weil es erlaubt ist. Aber per Gesetz ist es eben tatsächlich gestattet, sich über jemanden lustig zu machen, unsere Politiker:innen eingeschlossen, die königliche Familie oder die schwedische Flagge.
Wenn eine Debatte wie diese entbrennt, landet sie bald bei der Frage, ob es einer einzelnen religiösen Gruppe erlaubt sein sollte, die Redefreiheit einzuschränken, weil sie sich schneller beleidigt fühlt als andere. Hier landen wir dann immer schnell bei den üblichen Einwanderungsdebatten, bei der Vertreter:innen der Rechten sich über die vermeintliche Naivität der Linken auslassen. Und bei der Forderung, jegliche Einwanderung zu unterbinden.
Bei uns leben neben der kurdischen Community sehr viele Menschen, die aus Diktaturen geflohen sind, zum Beispiel aus Chile oder dem Iran. Es ist eigentlich also unsere Tradition und unser Selbstverständnis, dass wir auf der Seite der Unterdrückten stehen. Deshalb ruft die Situation mit Erdogan hier auch so viel Widerstand hervor. Ich weiß nicht, ob in Ihren Zeitungen auch stand, dass er der schwedischen Regierung eine Liste mit 73 in Schweden lebenden Kurd:innen übersandt hat, die wir in die Türkei abschieben sollen, damit er sie verhaften kann.
In Schweden regiert seit vergangenem Oktober nun eine Dreier-Koalition aus dem rechten Lager, erstmals unterstützt von den ultrarechten Schwedendemokraten.
Ulricha Johnson: Genau. Deshalb trauen wir gerade niemandem mehr.
Wie reagiert das Theater darauf?
Ulricha Johnson: Das Theater in Schweden reagiert auf diese Themen, wie ich finde, sehr verhalten. Es gab einige bemerkenswerte Produktionen wie "Sie werden in den Tränen ihrer Mütter ertrinken" am Unga Klara Theater nach dem preisgekrönten Roman von Johannes Anyuru, dessen Plot das Attentat auf "Charlie Hebdo" adaptiert. In den 1970er Jahren gab es viel politisches Theater. Ich glaube jedoch, dass meine Generation und jüngere Theatermacher:innen Angst vor dem belehrenden Ton haben, der in den damaligen Stücken herrschte. Sie lachen eher darüber und bemühen sich, auf elegantere und indirektere Weise politisch zu sein. Viele Dramatiker:innen wie Paula Stenström Öhman, deren Stück "Ambulanz" beim Heidelberger Stückemarkt zu sehen sein wird, Jonas Hassen Khemiri, Gertrud Larsson, Alejandro Leiva Wenger, Åsa Lindholm und Erik Holmström sprechen auf eine sehr raffinierte Art und Weise über das, was unsere Gesellschaft bewegt.
Wo finden in der schwedischen Theaterszene die spannendsten ästhetischen Experimente statt?
Ulricha Johnson: Ich würde sagen, dass die aufregendsten Experimente oft im Theater für junges Publikum stattfinden. Diese Institutionen sind nicht darauf angewiesen, ein breites Publikum zu erreichen. Sie verkaufen ihre Aufführungen an Schulen, was eine sehr verlässliche Finanzierungsquelle ist. So können sie ihre künstlerische Vision relativ "ungestört" verfolgen, was zu brillanten Ergebnissen führt. Ich würde sagen, dass das Backa Teater, das in Heidelberg mit "Glücklich bis ans Ende unserer Tage" von Emma Palmkvist in der Regie von Lars Melin zu Gast ist, sowie das Stadsteatern Skärholmen die absolute Spitze dieser experimentierfreudigen Institutionen sind. Dann haben wir einige sehr lustige und mutige unabhängige Gruppen: Malmö Dockteater, Potato Potato, Galeasen, TUR und Lumor. Von den größeren Institutionen haben mich in den letzten Jahren vor allem das Malmöer Stadsteater und Dramaten positiv überrascht. Auch einige Regisseur:innen stechen für mich heraus: Anna Petterson, Mattias Andersson, Marcus Lindéen, Carolina Frände und Alexander Mörk Eidem.
Der Heidelberger Stückemarkt ist ein Dramatiker:innen-Festival. Wir kennen aus Schweden August Strindberg, Lars Norén und Jonas Hassen Khemiri, auch Henning Mankell ist hier, jenseits seiner Kriminalromane, als Dramatiker etabliert. Ebenso werden häufig Filme von Ingmar Bergman für die Bühne adaptiert. Wen haben wir hier bislang übersehen und sollten ihn oder sie unbedingt kennen lernen?
Ulricha Johnson: Wie alle anderen westlichen Länder auch, haben wir erst kürzlich festgestellt, wer in den Geschichtsbüchern fehlt: die Künstlerinnen. Wir haben im letzten Jahrzehnt ein paar brillante Künstlerinnen entdeckt: Alfhild Agrell und Anne Charlotte Leffler. Sie arbeiteten in der Zeit Strindberg und Ibsens – und dass sehr erfolgreich.
Neue Autor:innen, die man im Auge behalten sollte, sind: Paula Stenström Öhman, Gertrud Larsson, Hanna Nygren, Astrid Menasanch Tobiesen, Mattias Andersson, Isabel Cruz Liljegren, Johanna Emanuelsson, Christina Ouzounidis, Sara Stridsberg, Gustav Tegby, Lisa Langseth, Marcus Lindéen, Felicia Ohly, Alexandra Loonin sowie natürlich die diesjährigen Teilnehmer:innen im Wettbewerb um den Internationalen Autor:innenpreis Alejandro Leiva Wenger, Åsa Lindholm und Adel Darwish. Ein Genie und zugleich ein alter Hase ist Kristina Lugn.
Sie sind Geschäftsführerin der Swedish Performing Arts Coalition. Was ist die Aufgabe dieser Koalition?
Ulricha Johnson: Die Welt besser zu machen (lacht).
Die Fragen stellte Dorte Lena Eilers.
>Programm
Zwinger 1
Theater und Orchester Heidelberg
Pirsch
von Ivana Sokola
Regie: Jana Vetten
Alter Saal
Gastspiel FUTUR3 in Zusammenarbeit mit dem Schauspiel Köln und Orangerie Theater Köln
Die Revolution lässt ihre Kinder verhungern
von André Erlen und Stefan H. Kraft
Regie: André Erlen
auf Deutsch und Ukrainisch
mit deutschen und ukrainischen Übertiteln
Uraufführung
Zwinger 3
Deutschsprachiger Autor:innenwettbewerb I
13:30 Uhr
draußen ist wetter (oder die erfindung der straßenverkehrsordnung) von Caspar-Maria Russo
14:30 Uhr
Blaupause von Leonie Lorena Wyss
16:00 Uhr
Doppeltreppe zum Wald von Lamin Leroy Gibba
Zwinger 1
Gastspiel Volkstheater Wien
in Kooperation mit Olivia Axel Scheucher
FUGUE FOUR: RESPONSE
von Olivia Axel Scheucher und Nick Romeo Reimann
Regie: Olivia Axel Scheucher
Uraufführung
Marguerre-Saal
Gastspiel Schauspielhaus Bochum
Baroque
von Lies Pauwels
Regie: Lies Pauwels
Uraufführung
Zwinger 3
Deutschsprachiger Autor:innenwettbewerb Teil II
13:30 Uhr
no shame in hope (eine Jogginghose ist ja kein Schicksal) von Svealena Kutschke
14:30 Uhr
Va†erzunge von Miriam Unterthiner
16:00 Uhr
Dann mach doch Limonade, Bitch von Kim de l’Horizon
Gastspiel Theater Dortmund
Über Leben
oder ἀτλαντὶς νῆσος. oder näher, mein gott, zu dir.
oder alles war für immer bis es aufhörte
von Annalena Küspert und Konstantin Küspert
Regie: Ruven Bircks
Nominiert für den Nachspielpreis
Amtsstübl im Verein Alt Heidelberg
Institut für Kontrolle und Exzess
saufen fechten heidelberg
Eine Theaterperformance zum Thema Studentenverbindungen und Burschenschaften
Rahmenprogramm
=>Tickets
Zwinger 3
Gastspiel Berliner Ensemble
ROT. Die Outtakes des Fabian Michael Möntges
Film von Clemens J. Setz
Regie: Kristina Seebruch
Alter Saal
Gastspiel Schauspiel Hannover
Wir sind nach dem Sturm
von Kevin Rittberger
Regie: Marie Bues
Uraufführung
Maguerre-Saal
Gastspiel Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Aus dem Leben
von Brigitte Venator und Karin Beier
Regie: Karin Beier
Uraufführung
Zwinger 3
Gastspiel Junges Ensemble Stuttgart
Oma Monika
Was war? 8+
von Milan Gather
Regie: Milan Gather
Mülheimer Kinderstückepreis 2022
Zwinger 1
Gastspiel Staatsschauspiel Dresden
Die Katze Eleonore
von Caren Jeß
Regie: Simon Werdelis
Uraufführung
Sprechzimmer
Gastspiel Theater im Marienbad Freiburg
What The Body?! 13+
Stückentwicklung von Lisa Bräuniger, Anne Wittmiß und Anna Fritsch
Regie: Anne Wittmiß
Nominiert für den Jugendstückepreis
Alter Saal
Gastspiel Staatstheater Darmstadt
Drei Kameradinnen 14+
von Shida Bazyar, Fassung von Golda Barton
Regie: Isabelle Redfern
Nominiert für den Jugendstückepreis
anschl. Publikumsgespräch
Sprechzimmer
Gastspiel Schauspiel Essen
Die Wand (360°)
Film nach dem Roman von Marlen Haushofer
VR-Fassung von Thomas Krupa
Vorstellungen um 11:Uhr, 13:30 Uhr, 18:30 Uhr
Dauer: jeweils ca. 1 Stunde
Zwinger 1 + 3
Gastspiel Theaterakademie Hamburg in Kooperation mit Junges Schauspielhaus Hamburg
Out There 13+
von Stanislava Jević
Regie: Dominique Enz
Nominiert für den Jugendstückepreis
Alter Saal
Gastspiel Burgtheater Wien
Adern
von Lisa Wentz
Regie: David Bösch
Uraufführung
Zwinger 1 + 3
Gastspiel Theaterakademie Hamburg in Kooperation mit Junges Schauspielhaus Hamburg
Out There 13+
von Stanislava Jević
Regie: Dominique Enz
Nominiert für den Jugendstückepreis
Alter Saal
Gastspiel Theater Basel
Wie alles endet
von Manuela Infante
Regie: Manuela Infante
Uraufführung
Zwinger 1
Gastspiel Schauspiel Frankfurt
Die letzte Geschichte der Menschheit
von Sören Hornung
Regie: Leon Bornemann
Nominiert für den Nachspielpreis
Marguerre Saal
Philharmonisches Orchester Heidelberg
Konzert
Sonderprogramm mit Musik aus Schweden und Finnland
Rahmenprogramm
Zwinger 3
Gastspiel OutOfTheBox in Kooperation mit LOT-Theater Braunschweig
In Ghosts We Trust
von Susanne Schuster und Ricardo Gehn
Dauer: jeweils 1 Stunde
Zeitslots:
10:00 /11:30 /
13:00/ 14:30 /
16:00/ 17:30 /
19:00/ 20:30
Alter Saal
Gastspiel Schauspiel Leipzig
zwei herren von real madrid
von Leo Meier
Regie: Albrecht Schroeder
Zwinger 3
Eröffnung Gastland-Programm Schweden
Zwinger 3
Internationaler Autor:innenwettbewerb
13:30 Uhr Leichenschmaus von Alejandro Leiva Wenger
14:30 Uhr Girls will make you blush von Åsa Lindholm
16:00 Uhr Hierarchy of Needs von Adel Darwish
Zwinger 1
Gastspiel Deutsches Theater Berlin
Das Augenlied ist ein Muskel
von Alexander Stutz
Regie: Jorinde Dröse
Uraufführung
Alter Saal
Gastspiel Dramaten in Kooperation mit Lumor Teater Stockholm
Ambulanz
von Paula Stenström Öhman
Regie: Paula Stenström Öhman
Schwedisch mit deutschen Übertiteln
Sprechzimmer
Theater in Schweden
Podiumsgespräch
Eintritt frei
Alter Saal
Gastspiel Backa Teater Göteborg
Glücklich bis ans Ende unserer Tage [10+]
Lyckliga i alla våra dagar
von Emma Palmkvist
Regie: Lars Melin
Schwedisch mit deutschen Übertiteln
Marguerre-Saal
Gastspiel Orionteatern Stockholm in Kooperation mit Riksteatern
… Anna Karenina
Det har aldrig funnits en kvinna som Anna Karenina
von Tone Schunnesson
Regie: Ragna Wei
Schwedisch mit deutschen Übertiteln
Alter Saal
Preisverleihung
Eintritt frei
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