Theater für eine gefährdete Welt

Stockholm, März 2023. Das Theater in Schweden blickt auf eine lange Geschichte von Demokratisierung und Diversifizierung, denn es will möglichst viele Menschen im Königreich erreichen. Die Szene hat in der Pandemie gelitten, wird aber als Reflexions- und Denkraum für die komplexen Fragen der Gegenwart immer noch sehr vom Publikum angenommen.

Von Anna Håkansson

Das schwedische Theater ist, wie der Rest des Landes, gegenwärtig ein Krisengebiet. Angesichts des Krieges in unserer europäischen Nachbarschaft, der erheblichen Auswirkungen der Pandemie auf das Theaterleben, angesichts wachsender Inflation und anhaltender Klimakrise, deren Folgen wir bisher nur in Ansätzen kennen, kann man die Situation nicht anders beschreiben. Gleichzeitig erleben wir, wie das Theater die gegenwärtige Lage mit einer spür- und sichtbaren Vitalität aufnimmt und reflektiert.

Wie in vielen anderen Ländern blieben die Zentren für Darstellende Künste während der Pandemie geschlossen. Eine Folge ist nun auch hier ein Mangel an Fachkräften, weil viele Menschen die Theater-Branche verlassen haben. Eine weitere Herausforderung besteht darin, die Zuschauerzahlen wieder auf das Niveau vor der Pandemie zu bringen. 2018 lag der Anteil der Menschen in Schweden, die in den letzten zwölf Monaten ein Theater besucht hatten, bei 39 Prozent. Laut einer Zusammenstellung des Statistischen Amtes in Schweden über die Umsatzeinbußen von Kultur- und Unterhaltungsunternehmen allein zwischen Januar und September 2020 gingen die Gesamtumsätze im Kultursektor um 29 Prozent zurück. Das bedeutet einen Umsatzrückgang von 3,6 Milliarden Kronen (SEK).

Mit 62 Prozent Umsatzeinbußen gehören Theater und Konzerthäuser zu den größten Verlierern. Hier wiederum gerieten die privaten Theater am stärksten unter Druck. Einnahmeverluste führten sogar dazu, dass legendäre Theaterhäuser vom Konkurs bedroht waren. Viele Häuser wurden durch staatliche Krisenhilfe über Wasser gehalten. Allerdings wurden jetzt im Haushaltsentwurf für 2023 diese Finanzhilfen wieder gestrichen, obwohl bei den Theatern von Erholung noch längst keine Rede sein kann.

Reflexion und Vertiefung

Seit Herbst 2022 hat Schweden eine neue Regierung, die aus einer Mitte-Rechts-Koalition besteht. In der Kulturpolitik hat sie bisher noch keine eigenen Marken gesetzt, sieht man von einer kurz aufgeflammten Debatte über den Fremdvergleichsgrundsatz einmal ab. In verschiedenen kulturellen Kontexten hat es seitens der Politik jedoch Versuche inhaltlicher Einflussnahme gegeben.

Wir leben in einem Zeitalter der Schnelllebigkeit, gegen die das Theater Widerstand leistet und es dabei wagt, sich auf das Interesse des Publikums zu verlassen. Der enorme Erfolg der achtstündigen Inszenierung von Matthew Lopez epischem Mehrgenerationendrama über das Schwulsein "Arv / Das Vermächtnis" am Königlich Dramatischen Theater ("Dramaten") in Stockholm ist nur ein Beispiel dafür, dass dieses Vertrauen berechtigt ist. Denn in unserer gefährdeten Welt laden die Darstellenden Künste auch zur Reflexion und Vertiefung des Nachdenkens ein und diese Einladung wird vom Publikum sehr gerne angenommen!

Das Theaterjahr 2023 begann mit einer Reihe von Produktionen, die die Klimakrise und die wachsende Spaltung der Gesellschaft kommentieren und reflektieren, zwei davon unter der Regie einiger der interessantesten Persönlichkeiten des schwedischen Theaters: Anja Suša inszenierte das schicksalhafte Drama "#jeanne", das die Kroatin Ivana Sajko eigens für das Stockholmer "Riksteatern" geschrieben hat, und in Ada Bergers Stück "Skapelsen / Schöpfung" stand buchstäblich die Zukunft auf dem Spiel. Im "Dramaten" kam 2020 "We Hear You", eine Inszenierung auf der Grundlage einer Rede von Greta Thunberg heraus, an der mehrere Kinder und viele professionelle Schauspieler:innen beteiligt waren. Eine der visuell schönsten Produktionen der Saison, das Kinderstück "Ett frö i rymden / Ein Samenkorn im Weltall" vom Stockholmer "Marionettenteatern" thematisiert mit Hilfe einer zeitgenössischen Fabel ebenfalls die Bedrohung durch die Klimakrise.

Schweden SamenImWeltall MarkusGarder Mit Objekten, Puppen und Masken bildmächtig von der Klimakrise erzählen: "Ett frö i rymden | Samen im Weltall" © Markus Garder

Eine Grundlage für die starke Gegenwartshaltigkeit des Theaters in Schweden besteht in seiner starken zeitgenössischen Dramatik. Unter den Autor:innen, die jetzt für den Internationalen Dramatiker:innenpreis beim Heidelberger Stückemarkt nominiert sind, sind einige der derzeit talentiertesten Dramatiker:innen des Landes. In diesem Kontext ist vielleicht interessant hervorzuheben, dass Mattias Andersson, seit 2020 der Künstlerische Leiter des "Königlichen Dramatischen Theaters", nicht nur Regisseur, sondern ebenfalls Dramatiker ist. Andersson hat immer wieder ein ausgeprägtes Gespür für drängende Fragen der Zeit bewiesen.

Manchmal hat er seine Beobachtungen durch den Filter von Klassikern wie August Strindbergs Nationalepos "Ein Traumspiel" geschickt. Am bekanntesten jedoch ist er für Produktionen geworden, die auf dokumentarischem Material basieren. Am Backa-Theater für Kinder und Jugendliche des Göteborger Stadttheaters etwa, wo Andersson vor seinem Wechsel ans Dramaten tätig war, inszenierte er unter anderem "Vi som fick leva om våra liv / Wir, die wir unser Leben neu erleben mussten". In diesem Stück wurde an einen sozioökonomischen Querschnitt der schwedischen Bevölkerung die Frage gerichtet, was sie anders machen würden, wenn sie ihr Leben noch einmal leben könnten.

In Anderssons Inszenierung "Hierarchy Of Needs / Hierarchie der Bedürfnisse" vermischen sich Realität und Fantasie auf verschiedenen Ebenen. Basis ist ein Text des Theaterdebütanten Adel Darwish, der 2015 aus Syrien nach Schweden geflüchtet ist und jetzt auch beim internationalen Autor:innenwettbewerb in Heidelberg antritt. Freie Gruppen wie das Performance-Kollektiv Potato Potato, das in Malmö beheimatet ist, jetzt aber in der neu eröffneten Bühne "Konträr" in Stockholm untergekommen ist, haben ebenfalls dokumentarisches Material verwendet. Das Stück "Riddare av tusen äventyr / Ritter der tausend Abenteuer" aus dem Jahr 2019 basiert zum Beispiel auf Interviews mit Pfadfinderinnen.

Schweden visomficklevaomvaraliv medDas Leben noch einmal leben können? "Vi som fick leva om våra liv" von Mattias Andersson © Backa Theater Göteborg

Auch hat die Tatsache Früchte getragen, dass die Pandemie die Theater zwang, digitale Möglichkeiten zu erforschen. Je länger die Pandemie dauerte, desto ausgefeilter wurden die Filmversionen der Produktionen, die die Theater über digitale Plattformen verfügbar machten. Obwohl eine kleine kulturelle Debatte darüber entbrannte, ob digitales Theater überhaupt als Darstellende Kunst gelten kann, hatten diese Produktionen großen Zulauf.

Dezentralisierung, Diversifizierung, Perspektiverweiterung

Eine zuverlässig wiederkehrende Debatte in der schwedischen Theaterszene dreht sich um Zentralisierung und Verteilung der Ressourcen. Denn Theaterproduktionen in den Großstädten erhalten sowohl mehr Ressourcen als auch mehr Aufmerksamkeit. Diesem Problem wurde in der Vergangenheit auf verschiedene Weise begegnet. So wurde in den 1930er Jahren mit dem Riksteatern ein Theater gegründet, das eine Art mobiles Nationaltheater ist und Orte im ganzen Land bespielt. In den 1950er Jahren entstanden viele neue Stadttheater. In den 1970er Jahren kamen noch Landestheater und unabhängige Gruppen hinzu.

Bis heute ist die schwedische Theaterlandschaft von der Kulturreform geprägt, die vor fünfzig Jahren mit dem Kulturgesetz von 1974 vollzogen wurde. Damals wurde der Grundstein für eine progressivere und integrativere Kulturpolitik gelegt, die das Gewicht auf Dezentralisierung legte, und den Theatern der Bezirke, den unabhängigen Gruppen und den staatlichen Theatern größere Bedeutung verschaffte. Trotzdem ergab ein Bericht der Branchen- und Arbeitgeberorganisation Svensk Scenkonst aus dem Jahr 2022, dass die Möglichkeiten für Kinder, professionelle darstellende Künste zu erleben, landesweit immer noch sehr unterschiedlich sind. Die angespannte Wirtschaftslage sowohl im Schul- als auch im Kulturbereich erschwert häufig die so wichtige Zusammenarbeit zwischen Schulen und Institutionen der Darstellenden Künste.

Das schwedische Kinder- und Jugendtheater ist seit langem stark, auch im internationalen Vergleich. Führende Persönlichkeiten wie Suzanne Osten, Gründerin des Kinder- und Jugendtheaters Unga Klara in Stockholm, haben mit ihren interaktiven und forschenden kreativen Prozessen Maßstäbe gesetzt, wie darstellende Kunst für junge Menschen in Zukunft aussehen kann. Auch unter der neuen Leitung von Farnaz Arbabi und Gustav Deinoff bleibt "Unga Klara" ein Vorreiter in Sachen Inklusion und Perspektivenerweiterung. Ein weiterer Beleg der Bedeutung des Themas Perspektiverweiterung für das schwedische Theater ist die Gründung des National Black Theatre of Sweden im Jahr 2018 mit dem Ziel, der darstellenden Kunst und Kultur Afrikas und der afrikanischen Diaspora eine Plattform zu bieten und diese zu feiern. Die erste Produktion war die skandinavische Erstaufführung von Woza Albert! / Komm, Albert! von Percy Mtwa, Mbongeni Ngema und Barney Simon unter der Regie von Josette Bushell-Mingo.

Schweden woza albert premiar 17 1024x682 1"#jeanne" von Ivana Sajko, Regie: Anja Suša im Riksteatern, Schwedens nationalem Tourneetheater, das den Auftrag hat, gutes Theater in entlegendste Winkel des Landes zu bringen. © Rikstheatern

Auch die Vorreiterrolle Schwedens bei der Gleichstellung der Geschlechter hat das Theater stark geprägt. Viele klassische Produktionen, aber auch neue Stücke zeichnen sich durch feministische und geschlechterpolitische Themen aus, nicht zuletzt in Bezug auf LGtBQ*-Themen. Zu den interessantesten Produktionen der letzten Jahre gehört Ada Bergers "Liv Strömquist tänker på sig selv / Liv Strömquist denkt über sich selbst nach", das auf dem Comic der feministischen Cartoonistin Liv Strömquist basiert und davon handelt, was aus der Magie der Liebe wird, wenn wir versuchen, einen Partner rational auszuwählen. Am Riksteatern nahm die Dramatikerin Malin Axelsson in ihrem Stück "Chefen / Der Chef" die Hierarchien im Management aufs Korn. 2019 dramatisierten Nina Jeppsson und Maja Salomonsson Marcel Prousts viertausend Seiten umfassendes Werk "På spaning efter den tid som flytt / Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" als Monolog, der von Jeppsson im Orion-Theater in Stockholm aufgeführt wurde. Am Riksteatern wurde auch Fanna Ndow Norrbys Anthologie "24 timmar svart kvinna / 24 Stunden Schwarze Frauen" für das Theater adaptiert.

Im freien Theater Turteatern, das in einem Stockholmer Vorort angesiedelt ist, inszenierten Amanda Apetrea und Lisen Rosell eine verdrehte queer-feministische Version von Jane Austens Romanstoff "Stolz und Vorurteil", in der sich die Frauen wie ruhelose Käfigtiere in Austens Universum bewegten, das von Geduldsproben beherrscht wird, die so endlos und quälend sind wie das Warten auf eine passende Partie. Und das sind nur einige Beispiele. Das schwedische Theater ist unbestreitbar vielfältig in Bezug auf Themen, Ausdruck und Anziehungskraft. Im Juni findet in Stockholm zum 30. Mal die Biennale der Darstellenden Künste statt, wo die besten und interessantesten schwedischen Theaterproduktionen der letzten zwei Jahre gezeigt werden. Ich hoffe, wir sehen uns dort!

Übersetzung aus dem Schwedischen mit Hilfe von Deep L: Esther Slevogt

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Anna Håkansson ist freie Theaterkritikerin und schreibt unter anderem für "Dagens Nyheter", Schwedens größte Tageszeitung. Außerdem arbeitet sie als Redakteurin für das Schwedische Filminstitut. Sie war Mitglied der beiden letzten Auswahlkommissionen der Schwedischen Biennale für Darstellende Künste, dem größten Theater-Festival in Schweden, das die jeweils besten Aufführungen aus den Bereichen schwedisches Theater, Musiktheater, Tanz und Zirkus präsentiert.

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