Mythos, Dunkelheit, Schmerz

Vor 15 Jahren wurde Nele vergewaltigt. Jetzt ist sie zurück und sinnt auf Rache: Jana Vetten inszeniert Ivana Sokolas "Pirsch" zur Eröffnung des Heidelberger Stückemarkts zunächst als sprachkritische Studie, die später in die Schwarze Romantik kippt.

Von Falk Schreiber

29. April 2023. Hölle Heimat. Im Dorf gibt es ein Dorffest. Und auf dem Dorffest wird getanzt, johlende Schatten hinter der Feuerwand performen den Exzess, zum hektischen Hedonismus-Geballere, "You make me feel / Mighty real", uffz-uffz. Irgendwann verschwinden Zwei hinter einem Felsen, und da passiert dann etwas. Vor 15 Jahren ist Marinka hier auch etwas passiert, von dem sie nicht sprechen mag, und seither tanzt Marinka nicht mehr.

Ivana Sokola erhielt 2022 den Autor:innenpreis beim Heidelberger Stückemarkt für ihr Stück Pirsch. Uraufgeführt wurde "Pirsch" in Göttingen von Christina Gegenbauer, Jana Vetten besorgt jetzt in Heidelberg die Zweitinszenierung zur Eröffnung des diesjährigen Stückemarkts. Und bleibt zunächst ganz nah an der Vorlage. Was nicht unproblematisch ist, stellt sich Sokolas Text doch vor allem als Text der Leerstellen dar: Marinka kann nicht in Worte fassen, was ihr passiert ist, ihre Sprache umkreist "Es", den Kuss, den Mann als wildes Tier, seinen Geruch. Aber ein Wort kommt ihr nicht über die Lippen: "Vergewaltigung". Was der Dorfgemeinschaft Gelegenheit gibt, das Geschehen als Traum, als Hirngespinst abzutun.

"Es ist ein Fest!"

Klar: Marinka hat damals das Dorf verlassen, ihr Bruder Jan und Jugendfreundin Lene sind hiergeblieben, und auch wenn die sich ihre Erzählungen zunächst gutwillig, später zunehmend genervt anhören, nutzen sie die Gelegenheit, die die fehlende Sprache bietet. "Es ist Fest!", ruft Jan einmal aus, "Der Kuss ist Institution auf dem Fest!" Solange niemand einen justiziablen Begriff in den Mund nimmt, ist auch kein Verbrechen geschehen, da kann selbst Nele, die mittlerweile Polizistin geworden ist, nichts unternehmen. Und das Fest kaputtmachen lassen, von einer, die weggezogen ist und auf die Dorfbewohner:innen herabschaut, das will man auch nicht.

Pirsch3 Susanne Reichardt uUntergründige Wut © Susanne Reichardt

Der Text ist stark, und Vetten nimmt diesen starken Text ernst. Was der Inszenierung interessanterweise erstmal nicht gut tut: Der Einstieg von "Pirsch" besteht aus misslingender Kommunikation, und die Aufführung bildet vor allem dieses Misslingen ab. Gezeigt werden Menschen, die aneinander vorbeireden, und die diese fatale Stummheit als Strategie einsetzen. Den Darsteller:innen kann man da keinen Vorwurf machen: André Kuntze, der Jan zwischen Feigheit und zaghafter Solidarität schillern lässt. Yana Robin La Baume, bei der Nele hinter einem patenten Panzer verhärtet. Marie Dziomber, die Marinka verletzt zeigt, verunsichert und mit untergründiger Wut. Aber es passiert schlicht nichts – alle wissen, was Sache ist, doch am Ende steht nur Schweigen. Als Bühnenstück gibt so etwas recht wenig her.

Tierwerdung der Figuren

Das ändert sich mit dem Auftritt der "Schaustellerin", bei Antonia Labs eine Camp-Figur, die dem Stück eine Ausflucht ins Mythische ermöglicht. Die Stumpfheit der billigen Popmusik weicht wummerndem House, und Marinka erkennt, dass sie eine Chance auf Vergeltung hat: indem sie sich auf das einlässt, was das Dorf eben auch sein kann, Mythos, Dunkelheit, Schmerz.

Pirsch2 Susanne Reichardt uChoreografie des Todes mit Hunden © Susanne Reichardt

"Pirsch" wird mit einem Schlag zur Schwarzen Romantik, in der eine Rächerin ein Rudel blutdürstiger Hunde anführt, in der Frauensolidarität möglich ist (auch Lene wurde einst auf dem Dorffest vergewaltigt), in der am Ende auch Blut spritzt. Und folgerichtig löst sich dabei auch Eugenie Leis' bis dahin eher starr-funktionales Bühnenbild auf, wird auseinandergenommen und durch den Raum gewirbelt. Die titelgebende "Pirsch" und die Hatz auf den Vergewaltiger, das sind plötzlich so lustvolle wie grausame Choreografien des Todes.

Düstere Gerechtigkeit

Die Handlung wird dabei freilich zur überraschend konventionellen Rape-and-Revenge-Story, der sprachkritische Gehalt, der "Pirsch" zu Beginn prägte, rückt nach und nach in den Hintergrund. Aus intellektueller Perspektive mag das eine etwas unbefriedigende Auflösung des Stücks sein, aber: Man gönnt Marinka ihre Rache, man gönnt ihr den blutverschmierten Mund und den angedeuteten Kuss mit Nele am Ende, und man versteht, wie die Tierwerdung der Figuren auch eine Utopie sein kann. Weil die Heimat eben nicht nur die Hölle ist, sondern auch der Ort, an dem Unerwartetes und Unheimliches passieren und so eine düstere Gerechtigkeit herstellen.

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Pirsch 
von Ivana Sokola 
Regie: Jana Vetten, Bühne und Kostüme: Eugenia Leis, Musik: Cornelius Borgolte, Dramaturgie: Ida Feldmann 
Mit: Marie Dziomber, André Kuntze, Yana Robin la Baume, Antonia Labs, Patricia Franke, Rahel Stork, Fabienne ten Thije
Produktion Theater Heidelberg in Kooperation mit der Akademie für Darstellende Kunst Ludwigsburg 

Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

 Hier mehr zu Ivana Sokola und ihr Stück Pirsch.

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